Im Reiche des silbernen Löwen I. Karl May
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Читать онлайн книгу Im Reiche des silbernen Löwen I - Karl May страница 34
»Wo willst du hin? Zu den gefangenen Bleichgesichtern?«
»Ja.«
»Das darfst du nicht!«
»Wer will es mir untersagen?«
»Ich.«
»Pshaw!«
Ich antwortete nur dieses eine Wort und ritt weiter. Da kam er noch näher, streckte die Hand nach meinem Zügel aus und schrie:
»Nicht weiter, sonst nehme ich dich gefangen!«
»Versuche es! Wer wagt es noch von euch, Old Shatterhand etwas zu verbieten, was ihm zu thun gefällt?«
Ich hielt mein Pferd an und richtete den Lauf des Stutzens auf den Alten.
»Uff, uff!« erscholl da sein Angstruf, mit welchem er im Haufen der Seinen verschwand. Ein anderer an meiner Stelle wäre von den Comantschen vom Pferde gerissen und sofort getötet oder wenigstens gefesselt worden; mir geschah dies nicht. Warum? Das hatte mehrere Gründe. Erstens wußten sie nun doch, daß ich von ihrem Häuptling gesandt worden war. Zweitens wirkte die Furcht vor meinem Gewehre. Drittens stand ich überhaupt bei ihnen in einem Rufe, der mir ein solches Wagnis ermöglichte. Was bei einem andern Tollkühnkeit hätte genannt werden müssen, war bei mir nur einfache Berechnung und Ausnützung dieser Umstände. Und endlich viertens wußte ich, daß mein Auftreten geradezu verblüffend wirken mußte. Ich zeigte, um den richtigen Ausdruck zu gebrauchen, eine Frechheit, die ihnen aber als etwas ganz anderes erschien. Das, was ich that, war in ihren Augen nicht das Verhalten eines verwegenen Menschen, sondern die Handlung einer mit einer »höhern Medizin« ausgestatteten und vom »großen Manitou« bevorzugten Persönlichkeit.
Ich lenkte mein Pferd wieder nach dem Hintergrunde, von woher mir der laute Ruf entgegenscholl:
»Old Shatterhand! Gott sei Dank! Euch hier zu sehen, ist das höchste der Gefühle!«
Ich hatte für diese Worte Jim Snuffles keine Erwiderung, weil ich die Roten nicht noch mehr aufregen wollte, hielt in der Nähe der Weißen an der Felswand an, stieg vom Pferde und setzte mich so nieder, daß ich an der Wand lehnte und den Rücken also frei hatte. Die Indianer bildeten einen Halbkreis um mich, doch in respektvoller Entfernung, weil ich den Stutzen noch immer schußfertig hielt. Ich befand mich, wenigstens einstweilen, in vollständiger Sicherheit.
Der vorhin eingeschüchterte Alte ließ sich jetzt wieder sehen; ich winkte ihm zu und forderte ihn auf:
»Mein roter Bruder mag nun das Totem lesen! Er wird aus demselben ersehen, daß ich gekommen bin, To-kei-chun, den Häuptling der Comantschen, vom Tode zu erretten.«
»Vorn Tode?« fragte er schnell und erschrocken. »Befindet er sich in Gefahr?«
»In einer sehr großen. Wenn ich nicht von jetzt an in der Zeit, welche wir Weißen eine halbe Stunde nennen, zu ihm zurückgekehrt bin, muß er sterben.«
»Uff – uff – uff – — uff!« ertönte es erschrocken im Halbkreise.
Der Alte setzte sich mir grad gegenüber nieder und nahm die Blätter vor, um sie zu entziffern. Ich betrachtete dabei sein Gesicht aufmerksamer, als ich es bisher gethan hatte; er wohl ein kluger, vielleicht gar ein pfiffiger Kerl. Schon nach kurzer Zeit hob er schnell den Kopf empor und warf einen langen, stechenden Blick auf mich. Er hatte die erste Figurengruppe enträtselt und wußte nun, daß sein Häuptling sich in meiner Gefangenschaft befand. Dann setzte er das mühsame Studium des Totems fort.
Von jetzt an verzog er keine Miene mehr; er verstand es, den Eindruck, den das, was er erfuhr, auf ihn machte, vollständig zu verbergen. Als er das letzte Blatt weglegte, blickte er lange und nachdenklich zur Erde nieder; er überlegte; ich hielt es nicht für gut, ihn dabei zu stören. Dann sah er mich wieder an, und zwar in einer Weise, welche, wenn ich meiner Sache nicht so sicher gewesen wäre, mich wohl um mich besorgt gemacht hätte.
Hierauf winkte er einen Roten herbei, einen starken, gewandt aussehenden Kerl, der sich zu ihm setzen mußte. Sie sprachen leise, sehr leise miteinander, wobei weder der eine noch der andere zu mir herübersah. Das dauerte eine ziemliche Weile, bis der zweite aufstand und wieder in den Halbkreis zurücktrat.
Diese sonderbare Wirkung des Totems wollte mir gar nicht gefallen. Ich hatte große Aufregung mit wütender Bedrohung meiner Person erwartet, und nun diese Ruhe! Sie wurde mir nachgerade unheimlich, zumal sie solange anhielt; denn der Alte sagte noch immer nichts, sondern blickte wieder wortlos und still vor sich nieder, und die Roten standen um uns her und hingen mit verlangenden Blicken an ihm, ohne daß er ihrer gespannten Wißbegierde ein Ende machte. Da mußte ich ihn denn doch nun fragen:
»Hat mein roter Bruder das Totem des Häuptlings verstanden?«
»Ja,« antwortete er.
Und nun stand er langsam auf und richtete an die Seinen die mir wieder sonderbare Aufforderung:
»Es ist etwas geschehen, was man für unmöglich halten sollte. Meine Brüder werden es sogleich hören; sie mögen aber nichts sagen, sondern sich ganz ruhig dabei verhalten; dies ist mein Befehl und geschieht um unsers Häuptlings willen!«
Hierauf wendete er sich mir wieder zu und fragte:
»Old Shatterhand hat To-kei-chun gefangen genommen?«
»Ja,« antwortete ich.
»Ist der Häuptling dabei verletzt worden?«
»Nein.«
»Es ist kein Blut geflossen?«
»Nein.«
»Es waren zwei Weiße dabei, darunter derjenige, der uns gestern am Flusse so heimlich entkommen ist?«
»Ja.«
»Was wird mit To-kei-chun geschehen?«
»Er muß sterben, wenn ich nicht in einer Viertelstunde bei ihm bin. Also bedenke wohl die Befehle, welche er dir auf seinem Totem giebt.«
»Er sagt mir, daß du ihn freilassen willst. Wofür?«
»Für die sechs Gefangenen hier. Doch ist es eigentlich anders. Um seine Medizin zu retten, will er mir diese sechs Weißen geben. Wann auch er die Freiheit erhält, das soll auf meine Güte ankommen.«
»So ist es; es steht auf dem Totem. Aber wir brauchen diesem Totem nicht zu gehorchen, weil es nicht von Leder ist; das weiß er gar wohl.«
»Dann verliert er das Leben!«
»Er wird nicht sterben. Old Shatterhand ist sonst ein kluges Bleichgesicht; diesmal aber hat er sich verrechnet.«
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