spazieren gehn lässt, — was ich nicht mehr ernst nehme. Lesen erholt mich eben von meinem Ernste. In tief arbeitsamen Zeiten sieht man keine Bücher bei mir: ich würde mich hüten, jemanden in meiner Nähe reden oder gar denken zu lassen. Und das hiesse ja lesen ... Hat man eigentlich beobachtet, dass in jener tiefen Spannung, zu der die Schwangerschaft den Geist und im Grunde den ganzen Organismus verurtheilt, der Zufall, jede Art Reiz von aussen her zu vehement wirkt, zu tief »einschlägt«? Man muss dem Zufall, dem Reiz von aussen her so viel als möglich aus dem Wege gehn; eine Art Selbst-Vermauerung gehört zu den ersten Instinkt-Klugheiten der geistigen Schwangerschaft. Werde ich es erlauben, dass ein fremder Gedanke heimlich über die Mauer steigt? — Und das hiesse ja lesen... Auf die Zeiten der Arbeit und Fruchtbarkeit folgt die Zeit der Erholung: heran mit euch, ihr angenehmen, ihr geistreichen, ihr gescheuten Bücher! — Werden es deutsche Bücher sein? ... Ich muss ein Halbjahr zurückrechnen, dass ich mich mit einem Buch in der Hand ertappe. Was war es doch? — Eine ausgezeichnete Studie von Victor Brochard, les Sceptiques Grecs, in der auch meine Laertiana gut benutzt sind. Die Skeptiker, der einzige ehrenwerthe Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen! ... Sonst nehme ich meine Zuflucht fast immer zu den selben Büchern, einer kleinen Zahl im Grunde, den gerade für mich bewiesenen Büchern. Es liegt vielleicht nicht in meiner Art, Viel und Vielerlei zu lesen: ein Lesezimmer macht mich krank. Es liegt auch nicht in meiner Art, Viel oder Vielerlei zu lieben. Vorsicht, selbst Feindseligkeit gegen neue Bücher gehört eher schon zu meinem Instinkte, als »Toleranz«, »largeur du coeur« und andre »Nächstenliebe« ... Im Grunde ist es eine kleine Anzahl älterer Franzosen zu denen ich immer wieder zurückkehre: ich glaube nur an französische Bildung und halte Alles, was sich sonst in Europa »Bildung« nennt, für Missverständniss, nicht zu reden von der deutschen Bildung ... Die wenigen Fälle hoher Bildung, die ich in Deutschland vorfand, waren alle französischer Herkunft, vor Allem Frau Cosima Wagner, bei weitem die erste Stimme in Fragen des Geschmacks, die ich gehört habe... Dass ich Pascal nicht lese, sondern liebe, als das lehrreichste Opfer des Christenthums, langsam hingemordet, erst leiblich, dann psychologisch, die ganze Logik dieser schauderhaftesten Form unmenschlicher Grausamkeit; dass ich Etwas von Montaigne‘s Muthwillen im Geiste, wer weiss? vielleicht auch im Leibe habe; dass mein Artisten-Geschmack die Namen Molière, Corneille und Racine nicht ohne Ingrimm gegen ein wüstes Genie wie Shakespeare in Schutz nimmt: das schliesst zuletzt nicht aus, dass mir nicht auch die allerletzten Franzosen eine charmante Gesellschaft wären. Ich sehe durchaus nicht ab, in welchem Jahrhundert der Geschichte man so neugierige und zugleich so delikate Psychologen zusammenfischen könnte, wie im jetzigen Paris: ich nenne versuchsweise — denn ihre Zahl ist gar nicht klein — die Herrn Paul Bourget, Pierre Loti, Gyp, Meilhac, Anatole France, Jules Lemaître, oder um Einen von der starken Rasse hervorzuheben, einen echten Lateiner, dem ich besonders zugethan bin, Guy de Maupassant. Ich ziehe diese Generation, unter uns gesagt, sogar ihren grossen Lehrern vor, die allesammt durch deutsche Philosophie verdorben sind: Herr Taine zum Beispiel durch Hegel, dem er das Missverständniss grosser Menschen und Zeiten verdankt. So weit Deutschland reicht, verdirbt es die Cultur. Der Krieg erst hat den Geist in Frankreich »erlöst« ... Stendhal, einer der schönsten Zufälle meines Lebens — denn Alles, was in ihm Epoche macht, hat der Zufall, niemals eine Empfehlung mir zugetrieben — ist ganz unschätzbar mit seinem vorwegnehmenden Psychologen-Auge, mit seinem Thatsachen-Griff, der an die Nähe des grössten Thatsächlichen erinnert (ex ungue Napoleonem — ); endlich nicht am Wenigsten als ehrlicher Atheist, eine in Frankreich spärliche und fast kaum auffindbare species, — Prosper Mérimée in Ehren ... Vielleicht bin ich selbst auf Stendhal neidisch? Er hat mir den besten Atheisten-Witz weggenommen, den gerade ich hätte machen können: »die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existirt« ... Ich selbst habe irgendwo gesagt: was war der grösste Einwand gegen das Dasein bisher? Gott...
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