Die Psychologie der Erbtante. Erich Muhsam
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Nachdem Tante Berthchen sich ein Tränlein aus der gelben Runzel gewischt hatte, die ihr von der Grube, welche einst Augenbraue hieß, bis zum Mundwinkel führte, entnahm sie der rechten Tasche ihres grauschwarzen Kleiderrocks einen Strickstrumpf, der linken eine Tüte mit Schokoladenplätzchen, spannte bei Regenwetter den violettpunktierten Regenschirm auf, den sie hierzu täglich auf der Bank liegen ließ, und begann zu stricken, zu lutschen und zu denken.
Ja, Tante Berthchen dachte, dachte viel und tief und hörte nicht auf zu denken, bis ihr die Augen zufielen und bis dann um Punkt 6 Uhr der alte Kirchhofsaufseher kam und sie weckte.
Worüber aber Tante Berthchen so tief und viel nachdachte, das war wichtig genug. Sie hatte nämlich im Laufe ihrer Witwenjahre ein Kapital von beinahe 30.000 Mark gespart und hatte bis jetzt noch immer kein Testament gemacht, obgleich sie schon ganz genau wußte, was mit dem Gelde geschehen sollte. 20.000 Mark sollte ihr einziger naher Anverwandter, ihr Neffe Emil bekommen, dem, wenn sie testamentlos sterben würde, der ganze Nachlaß zufiele. Aber das übrige sollte eine Biefke-Stiftung werden, aus der alle Steuern gezahlt werden sollten, die die Kundschaft des verewigten Steuererhebers Biefke alljährlich zu entrichten hatte. Zwar lebten ja nur noch wenige von denen, die der Selige dereinst regelmäßig erleichterte. Aber einer war darunter, der hatte ein so großes Einkommen, daß er jedes Jahr allein mehr als die 350 Mark an die Staatskasse abführte, die ihr Stiftungskapital Zinsen tragen würde. Wenn der tot wäre, dann würde es reichen, und Tante Berthchen beschloß daher, kein Testament zu machen, ehe nicht der Fabrikbesitzer Lehmeyer seine Augen zugemacht hätte. Da jedoch Herr Lehmeyer erst 65 Jahre zählte und kräftig und rüstig war, während Tante Berthchen selber 79 Jahre zählte und vor Altersschwäche schon bedenklich mit den Kinnbacken wackelte, so sagten die Leute, die von ihrem Warten auf Herrn Lehmeyers Tod wußten, sie sei wunderlich. Ihr Neffe Emil aber schrieb in sein Tagebuch: »Ich habe jetzt als Comis bei Eduard Bindemann ein Einkommen von 3.000 Mark jährlich. Die brauche ich zum Leben. Wenn Tante Berthchen, wie sie beabsichtigt, mich in ihrem Testament mit 20.000Mk. bedenkt, so werfen diese 700 Mk. Zinsen außerdem ab. Dann könnte ich ein klein bißchen besser leben. Stirbt sie aber, ohne ein Testament gemacht zu haben, und ich erhalte die ganzen 30.000 Mark, so macht mich mein Chef zu seinem Kompagnon, und ich bekomme die Hälfte des Geschäftseinkommens. Damit kann ich heiraten.«
So rechnete Emil. Und da er gern heiraten wollte, so lag ihm sehr daran zu verhüten, daß Tante Berthchen nicht etwa doch noch ein Testament machte. Er kannte aber ihre Gewohnheiten, und auf diese Kenntnis baute er einen bösartigen Plan auf, zu dessen Ausführung er an einem regnerischen Herbsttage schritt. Am frühen Morgen begab er sich an das Grab Onkel Biefkes, ergriff Tante Berthchens violett-punktierten Regenschirm, der wie immer an der Bank lehnte, und schlich mit dieser Beute davon.
Mittags setzte ein feiner Dauerregen ein, und als Tante Berthchen am Nachmittag kam, wischte sie sich das obligate Tränlein aus der gelben Runzel, entnahm der rechten Tasche ihres Rockes den Strickstrumpf, der linken die Schokoladenplätzchen und wollte dann ihren Schirm aufspannen. Da sie ihn nicht fand, fiel sie vor Schreck um. Als man sie nach Haus gebracht hatte und zur Linken ihres Bettes der Pastor mit einem Gebetbuch, zur Rechten der Notar mit einem Protokoll saß, die sie schleunigst hatte rufen lassen, da dachte sie nur noch an ihr Testament. Aber sie hatte bei dem Schrecken über den gestohlenen Regenschirm einen Teil ihres Verstandes verloren, und als der Notar sie fragte, wer denn nun ihre Erbschaft antreten sollte, dachte sie nur daran, daß Emil nicht alles haben sollte, und hauchte nur: »Emil nicht!« — Mehr bekam sie trotz aller Mühe nicht heraus. Der Notar schrieb daher, daß Tante Berthchen ihren Neffen Emil enterbe, und da er nicht von ihr erfahren konnte, wer an seine Stelle treten sollte, und auch ihre Kräfte immer mehr abnahmen, ließ er sie darunter ihren Namen setzen, was ihr mit Hilfe des Pastors noch grade gelang.
Sie starb. Angesichts der Enterbung ihres einzigen Verwandten kam Vater Staat und strich wohlgefällig schmunzelnd die 30.000 Mark ein. Der böse Emil aber hatte das Nachsehen und den Regenschirm.
Tante Christine
Ich mußte es schon glauben, diesmal. Mein Freund Ernst Frohgesinnt war mir unter Tränen um den Hals gefallen, um es mir zu erzählen. Und ich freute mich, daß ich es ihm glauben durfte. Er war ein lieber Kerl, dem man ein bißchen Glück schon gönnen konnte, und Tante Christine war ein so braves, gutes altes Fräuleinchen, daß ich, wenn überhaupt schon einer, ihr zuallererst zutrauen konnte, meine Skepsis den Erbtanten gegenüber zu erschüttern.
Also es war kein Zweifel mehr. Tante Christine hatte Ernst Frohgesinnt, ihren einzigen Neffen und nächsten Verwandten zum Universalerben ihres ganzen Vermögens von 45.000 Mark eingesetzt; ja, sie war so gütig gewesen, um von der Vorfreude schon zu Lebzeiten etwas mitanzusehen, ihn ihr Testament lesen zu lassen.
Ernst war glückselig. Wir gingen den Abend zusammen in den Kaiserkeller und tranken ein Glas Wein nach dem andern auf das Wohl und das sanfte Ende Tante Christinens.
Und Ernst baute goldene Luftschlösser. Zunächst wollte er heiraten, sein kleines Lieschen, mit dem er schon drei Jahre verlobt war, dann wollte er seine Gedichte drucken lassen und dann eine Erholungsreise nach dem Süden machen, um seine kranken Lungen zu stärken. Wie er glühte vor Freude! Und wie die roten Flecken auf seinen Wangen sich über das ganze Gesicht ergossen, so daß es aussah, als ob der Wein sie einem ganz Gesunden aufgemalt hätte!... Am nächsten Tage besuchte ich Tante Christine. Ich hielt es für ratsam, als Freund ihres Neffen mich ab und zu bei ihr sehen zu lassen, und jetzt, wo ich von ihrem hochherzigen Testament wußte, drängte es mich ganz besonders, zu ihr zu gehen.
Ich hatte die alte Dame wirklich gern. Von allen Tanten, welche ich in meinem Leben kennenzulernen Gelegenheit hatte, war sie eine der sympathischsten. Sie hatte ein rundes, freundliches Gesicht und kluge gute Augen, die freudig aufleuchteten, wenn sie von ihrem Neffen Ernst Frohgesinnt sprach. Auch ich nannte sie Tantchen, die kleine, bewegliche Person, die man gern haben mußte, wenn man sie einmal kennengelernt hatte.
Sie trug stets ein schwarzseidenes Kleid mit wertvollen Tüllspitzen und darüber eine elegante schwarze Schürze, aus deren Tasche ein klirrender Schlüsselbund heraushing. Das graue Haar krönte ein blitzsauberes Häubchen, und die goldnen lang herabhängenden Ohrringe vervollständigten das Bild eines der lieben Tantchen, welche den jungen Mädchen in den biederdeutschen Romanen mit erfreulichem Ausgange zum Schluß zu dem einzig geliebten, aber mit aller Tücke Marlittscher Phantasie von hundert Intrigen festgehaltenen Mann verhelfen. Sie begrüßte mich lebhaft und herzlich, setzte mir auch ein Glas Wein vor und eine Cigarre — sie war auf jeden Besuch stets vorbereitet — und plauderte dann lustig drauflos. Von ihrer Kindheit und von Ihrer Brautzeit; ja, verlobt war sie auch gewesen mit einem schönen jungen Steuermann — wie oft hatte ich die Geschichte schon gehört! —, aber der war bei einem Schiffbruch ertrunken, drei Wochen vor dem Tage, an dem sie heiraten sollten, und seitdem trug sie Witwenkleider und widmete ihr Leben ganz der Erinnerung an den Verstorbenen.
Jetzt war sie natürlich längst über den tiefen Gram hinaus, der sie Jahrzehnte weltscheu und einsam gemacht hatte; jetzt erzählte sie heiter und anschaulich kleine Episoden aus ihren Glückstagen, und ich konnte ihr immer wieder zuhören: ihr ganzer Roman paßte so genau zu ihrer Erscheinung und ihrem Wesen, daß es nie ermüdete, wenn sie ihn erzählte.
Und dann kam sie auf Ernst zu sprechen. Ja, der hätte noch so etwas von ihrem Bräutigam — im Charakter und im Benehmen. Nur schade, daß seine Gesundheit schwach sei! Na, nach ihrem Tode würde er ja keine Sorgen mehr zu haben brauchen um das tägliche Brot, dann könne er sich hegen und pflegen. Daß sie ihm ja, wenn sie wollte, schon jetzt helfen konnte, darauf kam sie nicht, aber sie leuchtete ordentlich auf in dem stolzen Gefühl, daß sie es sei, die den armen Jungen einmal aus seiner ständigen Misere befreien würde. Jetzt habe sie ihr Testament vom Notar beglaubigen lassen, und nun könne sie getrost sterben. — — Es kam anders.
Eines