Schulmeisters Marie. Eugenie Marlitt
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»Du ungezogener Balg!« schrie sie mit gellender Stimme. »Wie kannst du dich unterstehen, mir so nahe zu kommen?«
»Gebt ihr doch einen Denkzettel, damit ihr das Wiederkommen vergeht!« sagte der Sohn des Wirtes, der seiner ungemein schmächtigen Gestalt wegen allgemein »der dürre Bastel« genannt wurde, im übrigen aber seinem häßlichen Vater glich wie ein Ei dem anderen.
»Was hast du hier zu suchen?« fuhr er das erschrockene Kind an. »Lange Finger brauchen wir hier nicht!… Geh du«, und er hob den Arm, um die Kleine zu schlagen.
In demselben Augenblick aber wurde seine Hand mit einem fast krampfhaften Druck festgehalten. Er wandte sich um. Hinter ihm stand, wie plötzlich aus der Erde gewachsen, eine Frau. Ein dunkler Mantel umhüllte die hochgewachsene, ein wenig nach vorn gebeugte Gestalt; um das totenbleiche, vergrämte Gesicht schloß sich die feine, blendendweiße Krause eines Häubchens, und darüber war ein großes graues Tuch geschlagen, das Kopf und Schultern nonnenhaft bedeckte.
»Tue meinem Kinde nichts zuleide, Bastel!« sagte sie halblaut, als wolle sie ihre Anwesenheit nicht bemerkbar machen. Trotzdem klang es aus ihrem Ton eher wie eine Herausforderung denn als Bitte, und in der hastigen Bewegung, mit der sie das kleine Mädchen unter den Mantel zog, lag jene Entschlossenheit, mit der eine Mutter ihr Junges vor einem Angriff schützt.
Das anfangs verblüffte Gesicht des Burschen verwandelte sich schnell zu einem hämischen Grinsen.
»Ei der Tausend, da ist ja die Frau Schulmeisterin wieder!« rief er spöttisch und zog ironisch-höflich seine Mütze bis zur Erde. »Was, die Strafzeit schon vorüber? Habt Ihr fleißig gesponnen zwischen den vier Wänden? – Zeit genug habt Ihr gehabt – na, seid auch schön willkommen!«
Das feine, verwelkte Gesicht der Angeredeten färbte sich dunkelrot; ihre blassen Lippen schlossen sich einen Augenblick fester zusammen, als wolle sie damit einen tiefen Schmerz bekämpfen; dann aber entgegnete sie ruhig: »Du weißt recht gut, Bastel, so wie alle hier, daß ich nicht für strafbar befunden worden bin.«
»Aber auch nicht für unschuldig, he, Frau Lindner?«
Ohne Zweifel wollte die gequälte Frau dem schonungslosen Frager gebührend antworten; denn sie hob würdevoll den Kopf und trat dem jungen Menschen einen Schritt näher, so daß er scheu zurückwich; allein, durch einen unvermuteten Anwalt wurde sie jeglicher Selbstverteidigung enthoben.
Das junge Mädchen da droben in dem netten Häuschen hatte nur ein einziges Mal von ihrer Näherei hinweg nach dem bunten Treiben auf dem Tanzplatz geblickt; aber sie war auch sofort im jähen Freudenschrecken aufgesprungen, hatte die Tür aufgerissen und war atemlos nach der Stelle geflogen, wo die eben angekommene Frau sich befand. Durch den Menschenschwarm zurückgehalten, wurde sie Zeugin der peinlichen Szene. Nur mit Mühe hatte sie die Tränen unterdrückt, als sie die gebrochene, abgehärmte Gestalt schutzlos inmitten der hämischen Gesichter stehen sah, die sie mit jener scheu gaffenden Neugier umringten, mit der ungebildete Menschen ein fremdes, reißendes Tier, einen verunglückten Menschen oder einen eingefangenen Verbrecher zu betrachten pflegen. Mehrere Male hatte sie versucht, den dichten Haufen zu durchbrechen; allein, den Leuten war der Auftritt viel zu interessant, als daß sie nur einen Zollbreit gewichen wären. Was indes Bitten und Flehen nicht vermocht hatten, das bewirkte endlich ein Schrei der Entrüstung, den das Mädchen infolge der letzten unverschämten Äußerung Bastels ausstieß. Die Menge stob sofort erschrocken auseinander – einen Augenblick später stand das junge Mädchen neben der gekränkten Frau und schloß sie zärtlich in ihre Arme.
»Mutter«, sagte sie, »gib es auf, das Vorurteil dieser hier« – sie deutete mit einer fast stolzen Gebärde auf die Umstehenden – »zu bekämpfen. Eher würde ein Rabe weiß werden, als daß sie sich von deiner Unschuld überzeugen ließen. Sie glauben das Schlimme gern und trennen sich von einer üblen Meinung fast noch schwerer als von ihrem Geld… Du, Bastel«, fuhr sie zu dem jungen Burschen gewendet fort, »hast wieder einmal deinen tückischen Sinn recht gezeigt. Dein ganzes Benehmen gegen uns während einer so schweren Prüfungszeit war ein elendes, ein undankbares. Diese Frau« – sie legte die Arme fester um ihre Mutter – »nahm dich einst als halbverwahrlostes, mit Ausschlag bedecktes Kind in ihr Haus, weil deinem eigenen Vater vor dem Anblick graute. Sie hat dich mütterlich gepflegt, und dein Dank dafür ist, daß du sie in ihren alten Tagen zu beschimpfen suchst. Ebenso hast du wohl vergessen, daß ihre Hände es waren, die deiner braven, sterbenden Mutter die Augen zudrückten, während du beim Kartenspiel diesen letzten Liebesdienst versäumtest?«
Bastel, der sich anfänglich bei dem Erscheinen des Mädchens hinter die Umstehenden zurückgezogen hatte, fuhr bei dieser letzten Anschuldigung wie wütend auf die Sprechende los.
»Ach, du überg‘studierter Schulmeister, du!« schrie er. »Mache dich nicht so mausig!… Wenn deine Mutter uns dienstbar war, so wird sie auch reichlich dafür bezahlt worden sein. Der reiche Tannenwirt nimmt nichts geschenkt; am allerwenigsten aber von solchen Hungerleidern, wie ihr seid… Geh lieber heim«, fuhr er fort, und ein tückischer Blick streifte das Mädchen, »und pfleg das Kind; das kann dein vornehmer Herr für seine fünfzig Taler schon verlangen… Geh heim, da tust du besser, als daß du hier stehst und predigst wie der Herr Pfarrer auf der Kanzel!«
Es mußte eine furchtbare Beleidigung in diesen, von spöttischen Gebärden begleiteten Worten liegen, denn das junge Mädchen zuckte im tödlichen Schrecken zusammen; sie erbleichte bis in die Lippen und richtete einen wehklagenden Blick auf ihre Mutter. Diese jedoch sagte scheinbar gelassen: »Du kannst mein Kind nicht beleidigen, Bastel; denn du selbst bist zu verächtlich… An die Schande, die du Marie aufbürden willst, glaubst du so wenig als das ganze Dorf – denn ihr unbescholtenes Leben liegt ja klar vor aller Augen.«
»Bis auf ein Jahr, das sie in der Stadt zugebracht hat«, unterbrach sie hier eine rauhe Stimme. Der Wirt, welcher gesprochen hatte, ließ seinen Worten ein kurzes, rohes Gelächter folgen.
Hatte die alte Frau bis dahin standhaft ihre Fassung behauptet, so war es jetzt um dieselbe geschehen. Mit funkelnden Augen trat sie vor ihre Tochter, hob die Rechte drohend gegen den Wirt und rief mit unheimlich klingender Stimme: »Tannenwirt, Ihr seid mein Feind seit langen Jahren! Was mir auch Böses von den Menschen widerfahren ist, Ihr hattet stets die Hand dabei im Spiele… Ich habe Euch nicht geflucht um Eurer unglücklichen Frau willen, und weil Ihr mich, mich allein verfolgtet. Aber hütet Euch, mein Muttergefühl zu kränken!… Ich sage Euch nochmals, hütet Euch, auch nur einen Schatten von Verdacht auf mein schuldloses Kind zu werfen, oder Ihr sollt mich kennenlernen!«
Der heroische Ausdruck einer edlen Empfindung hat in gewissen Momenten Gewalt selbst über die rohesten, unzugänglichsten Naturen, und so wurde diese entflammte, in ihrem Kind beleidigte Mutter momentan ein Gegenstand der allgemeinen Teilnahme. Freilich äußerte sich dieselbe nicht sehr tatkräftig, denn das Ansehen und der Reichtum des Wirtes fielen dem menschlichen Mitgefühl gegenüber schwer ins Gewicht; allein, es wurden doch tröstende Stimmen laut, wie: »Beruhigt Euch, Frau Lindner, der Bastel war zu hitzig – Niemand im Dorfe glaubt, was er eben gesagt hat – Wir wissen ja, daß die Marie brav und unbescholten ist« – und der Kreis teilte sich, um die Frau mit ihren Kindern hindurchzulassen. Sie verließ denn auch, gestützt auf ihre ältere Tochter und das kleine Mädchen an der Hand führend, den Schauplatz des kränkenden Vorfalles und schwankte müden Schrittes ihrem Hause zu.
Die Tanzmusik begann von neuem. Die alten Bauern stopften ihre Pfeifen, und die jungen Burschen führten ihre kreischenden