Am Jenseits. Karl May

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Am Jenseits - Karl May

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auf unabsehbare Zeit hinausschieben würde. Es gibt Kapitalanlagen, welche der Herrgott in sein Buch einträgt, um erst am großen Tage der Abrechnung Soll und Haben zu vergleichen, und derjenige Mann oder dasjenige Volk ist der beste Missionar, weicher den Andersgläubigen mehr durch sein Leben als durch seine Lehren zu überzeugen sucht. Ein Gott wohlgefälliges und den Mitmenschen nützliches Leben ist die einzig richtige Vorbereitung des Bodens zu der Saat, die dann allerdings durch die Predigt in Worten zu geschehen hat.

      Komm mit mir im Geiste in die Wüste, lieber Leser! Du hast gelernt, die Bedürfnisse deines Körpers auf das allergeringste Maß herabzumindern. Der Hunger ficht dich nicht mehr an, und auch den Durst hast du bis zum gebotenen Grade zu beherrschen gelernt. Du bist auf Fasten gestellt und wirst nun die Erfahrung machen, daß jetzt die Tätigkeit des Geistes diejenige des Körpers überragt. Das ist der Grund, weshalb selbst bei halb oder gar nicht zivilisierten Völkern vor wichtigen Wendepunkten im Leben des Einzelnen oder auch der Gesamtheit ein Fasten vorgeschrieben ist. Sogar der Indianer fastet längere Zeit vor der Zeremonie des Namengebens oder vor der Wahl der Medizin. Es ist, als ob die Seele freier geworden und in ihren Funktionen weniger gehemmt sei als vorher. Deine geistigen Sinne scheinen doppelte Schärfe und deine Gedanken Flügel bekommen zu haben. Du lebst mehr innerlich als äußerlich. Du hast dich an den schaukelnden Gang des Kamels gewöhnt; er stört dich nicht mehr. Im hohen Sattel des Hedschihn sitzend, achtest du nicht auf die Bewegungen des Tieres, dessen weiche, elastische Schritte nicht bis zu dir heraufwirken . Reitest du durch die Hochfelsenwüste oder durch das Warr, so fühlst du dich als körperliches Individuum so klein, so nichtig, so verlassen in diesem überwältigenden Stein und Trümmermeere; reitest du über den glatten Sandozean, so siehst du ihn nicht hinter dir verschwinden, während er sich aber vor dir immer weiter und weiter ausbreitet. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, keine Grenze hier, denn der Horizont ist zur Vermählung des Himmels mit der Erde geworden, die zwischen beiden keine Linie mehr kennt. Du weißt nicht, wo das Unten aufhört und das Oben beginnt, und hast das Gefühl, als ob die über dir glühende Sonne die Erde und dich mit ihr immer auf und stetig aufwärts ziehe. Und wie du Himmel und Erde nicht mehr zu trennen vermagst, so schaust du zu gleicher Zeit nach außen und nach innen. Die Endlosigkeit vor deinem körperlichen Auge ist gleich der unmeßbaren Weite, welche vor deinem geistigen liegt. Dein Leib wird fortgetragen, ohne daß du es fühlst, und deine Seele fliegt. Dein Leib? Du hast keinen Leib mehr; du bist nur Seele, nichts als Seele. Der Leib ist in dieser Grenzenlosigkeit immer leichter und leichter, immer nichtiger und nichtiger geworden, bis er als ein Nichts in der Unendlichkeit dir aus den Gedanken schwand. Aber daß deine Seele besteht, bestehen muß und auch fortbestehen wird, das ist dir zu einer Klarheit geworden, gegen die kein Hauch des Zweifels möglich ist. Du selbst bist ja diese Seele und kannst kein Ende nehmen, wie es hier überhaupt kein Ende gibt! Der Zweifel kann nur auf der Erde wohnen, und du befindest dich ja nicht mehr auf ihr. Du bist jetzt überirdisch und atmest im seligen Reiche der Zuversicht zu dem, der da ist das ewige Leben und dessen Eigentum du bist. Du fühlst es, und du weißt es, daß es von jetzt an keine Macht mehr gibt, der es gelingen kann, dich in der Überzeugung deiner Unsterblichkeit irre zu machen.

      Da hörst du Worte; sie klingen wie aus weiter, weiter Ferne zu dir, aber sie rufen dich doch zur Erde zurück. Du bist nicht mehr jenseits, sondern diesseits unserer Grenzen und siehst, daß der Schech el Dschemali (Karawanenführer) es ist, der gesprochen hat. Er deutet vorwärts, und indem du diesem Fingerzeige mit dem Auge folgst, bemerkst du eine Karawane, welche weit draußen in der Wüste vorüberzieht. Ihr Führer trennt sich von ihr und der eurige von euch. Beide reiten einander entgegen, um Frage und Antwort auszutauschen, während beide Karawanen ihres Weges weiterziehen. Du staunst über den Anblick dieser fremden Wanderer; du fragst dich, ob das die Wirklichkeit oder eine Phantasmagorie sei. Die Gestalten sind von zwei horizontalen Linien durchschnitten, zwischen denen sich nichts befindet; unter ihnen siehst du die langen, weiterschreitenden Beine und die halben Leiber der Kamele, während über ihnen die oberen Leibeshälften mit den Reitern in der Luft zu schweben scheinen; der eine Teil des Bildes ist senkrecht; der andere schräg. Die Ursache davon hast du in den von der Erde zurückgeworfenen Sonnenstrahlen zu suchen; das sagt dir das eigentümliche Zittern der zerschnittenen Gestalten. Wer sind sie? Wo kommen sie her, wo gehen sie hin? Der Schech el Dschemali wird es erfahren und euch sagen. Aber wer sie auch sein mögen, sie befinden sich in derselben Wüste und haben ganz dasselbe empfunden und gedacht wie du. Es gibt unter ihnen keinen, der an dem Dasein Gottes und an dem ewigen Leben Zweifel hegt, denn die Seele jedes von ihnen ist da oben gewesen, wo jetzt auch die deine war.

      Der Tag vergeht, und um die Zeit des Moghreb wird Halt gemacht. Das Lager wird gebildet und dann das Wasser ausgeteilt. Wie erhebend klingt dann der Ruf:

      »Hai‘alas Salah, hai‘alal Felah; Allah akbar; la Ilaha il Allah – — – auf zum Gebete, auf zum Heil; Gott ist sehr groß; es gibt keinen Gott außer Gott!«

      Nach dem raschen Hereinbruche der Dunkelheit wird noch das Abendgebet gesprochen; dann hüllt ihr euch in eure Decken; die Beduinen schlafen; du aber hast die Augen offen, denn die Sterne Gottes sind aufgegangen, hier in größerer Pracht und Herrlichkeit als anderswo. Sie ziehen mit magischer Gewalt deinen Blick zu sich hinauf und mit ihm deine Seele mit allen ihren Gedanken.

      Du denkst zunächst des heimatlichen Himmels, der andere Bilder hat als dieser südlichere. Das liebe Vaterhaus mit allen, die in ihm wohnen, kommt dir in den Sinn. Dein Herz eilt hin zu ihnen, denen deine Liebe gehört. Du hältst Heimkehr aus der Wüste, aus der fernen Fremde in die Heimat, die dich geboren hat. Aber der Glanz der Sterne zieht dich wieder her, ohne daß du das Gefühl, daheim zu sein, verlierst. Bist du nicht auch hier daheim, an der Seite des himmlischen Vaters, von welchem Jesaias sagt: »Kann denn ein Weib ihres Kindes vergessen, daß sie sich nicht erbarmte des Sohnes ihres Leibes? Und wenn sie es vergäße, so wollte doch ich dich nicht vergessen!« So wird dir selbst die Wüste zum Heim, und auch die Sterne grüßen dich nicht fremd. Es ist, als ob sie liebe, verheißungsvolle Worte herniederflimmerten von den Wohnungen im Hause des Vaters, welche Christus uns bereitet hat. Ist es nicht wunderbar, daß diese Sonnen und Welten, millionenmal größer als unsere winzige Erde, dich nicht erschrecken, sondern vielmehr deinen Glauben und dein Vertrauen stärken? Es drückt dich nicht nieder, daß sie schon Milliarden von Jahren bestanden haben und noch Billionen von Jahren bestehen werden, während dein Leben höchstens siebzig Jahre währt, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre. Und du tust wohl daran, so zuversichtlich zu sein, denn Christus sagt: »Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen!« Und diese Worte, welche ewig bleiben, sind die Worte von der Liebe, von der Liebe des Vaters, dessen Kinder wir sind für Zeit und Ewigkeit. Bist du ein guter Mensch, so schau hinauf zum Himmel und sag: Hast du nicht jeden einzelnen dieser lichten Sterne lieb? Sag »Nein«, wenn du es vermagst! Höre die Worte, welche einst nach meinem Tode mit meinen andern Gedichten veröffentlicht werden:

      Ich fragte zu den Sternen

      Wohl auf in stiller Nacht,

      Ob dort in jenen Fernen

      Die Liebe mein gedacht.

      Da kam ein Strahl hernieder,

      Helleuchtend, in mein Herz

      Und nahm alle meine Lieder

      Zu dir, Gott, himmelwärts.

      Ich fragte zu den Sternen

      Wohl auf in stiller Nacht,

      Warum in jene Fernen

      Er sie emporgebracht.

      Da kam die Antwort nieder:

      »Denk nicht an irdschen Ruhm;

      Ich lieh dir diese Lieder;

      Sie sind mein Eigentum!«

      Ich

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