Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке. Генрих Бёлль
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке - Генрих Бёлль страница 12
Scharf zeichnete sich die Kette der Lampen über der Nebelschicht am Ufer ab.
‚Komm‘, sagte Schrella, ‚dort sind sie, hörst du sie nicht?‘ Ich hörte sie, der Gehsteig bebte schon unter ihren Schritten, sie sprachen von Ferienorten, in die sie bald abreisen würden: Allgäu, Westerwald, Bad Gastein, Nordsee, sprachen von dem Ball, den Robert schlug. Im Gehen war meine Frage leichter zu stellen.
‚Warum‘, fragte ich, ‚warum? Bist du Jude?‘
‚Nein.‘
‚Was bist du denn?‘
‚Wir sind Lämmer‘, sagte Schrella, ‚haben geschworen, nie vom Sakrament des Büffels[23] zu essen.‘
‚Lämmer.‘ Ich hatte Angst vor dem Wort. ‚Eine Sekte?‘ fragte ich.
‚Vielleicht.‘
‚Keine Partei?‘
‚Nein.‘
‚Ich werde nicht können‘, sagte ich, ‚ich kann nicht Lamm sein.‘
‚Willst du vom Sakrament des Büffels kosten?‘
‚Nein‘, sagte ich.
‚Hirten‘, sagte er, ‚es gibt welche, die die Herde nicht verlassen.‘
‚Schnell‘, sagte ich, ‚schnell, sie sind schon ganz nah.‘
Wir stiegen den dunklen Aufgang an der Westseite hinunter, und ich zögerte noch einen Augenblick, als wir die Straße erreichten; mein Heimweg führte nach rechts, Schrellas Weg nach links, aber dann folgte ich ihm nach links, wo der Weg sich zwischen Holzlagern, Kohlenschuppen und Schrebergärten stadtwärts wand. Wir blieben hinter der ersten Wegbiegung stehen, nun tief in der flachen Nebelschicht drin, beobachteten die Schatten der Schulkameraden, die oberhalb des Brückengeländers sich wie Silhouetten bewegten, hörten den Lärm ihrer Schritte, ihrer Stimmen, als sie den Aufgang herunterkamen, dröhnendes Echo schwer genagelter Schuhe, und eine Stimme rief: ‚Nettlinger, Nettlinger, warte doch.‘ Nettlingers laute Stimme warf ein wildes Echo über den Fluss, kam, von den Brückenpfeilern gebrochen, auf uns zurück, verlor sich hinter uns in Gärten und Lagerhallen, Nettlingers Stimme, die schrie: ‚Wo ist denn unser Lämmchen mit seinem Hirten geblieben?‘ Lachen, vielfach gebrochenes, fiel wie Scherben über uns.
‚Hast du gehört?‘ fragte Schrella. ‚Ja‘, sagte ich, ‚Lamm und Hirte.‘
Wir blickten auf die Schatten der Nachzügler, die über den Gehsteig kamen; dunkel ihre Stimmen im Aufgang, wurden heller, als sie auf die Straße kamen, brachen sich unter den Brückenbögen, ‚der Ball, den Robert schlug‘.
‚Genaues‘, sagte ich zu Schrella, ‚ich muss genaues wissen.‘
‚Ich will es dir zeigen‘, sagte Schrella, ‚komm.‘ Wir tasteten uns durch den Nebel, an Stacheldrahtzäunen entlang, erreichten einen Holzzaun, der noch frisch roch und gelblich schimmerte; eine Glühbirne über einem cverschlossenen Tor beleuchtete ein Emailleschild: ‚Michaelis, Kohlen, Koks, Briketts.‘
‚Kennst du den Weg noch?‘ fragte Schrella.
‚Ja‘, sagte ich, ‚vor sieben Jahren sind wir beide ihn oft gegangen und haben unten bei Trischlers gespielt. Was ist aus Alois geworden?‘
‚Er ist Schiffer, wie sein Vater war.‘
‚Und dein Vater ist noch Kellner da unten in der Schifferkneipe?‘
‚Nein, der ist jetzt am oberen Hafen.‘
‚Du wolltest mir genaues zeigen!‘
Schrella nahm die Zigarette aus dem Mund, zog seine Jacke aus, streifte die Hosenträger von den Schultern, hob sein Hemd hoch, drehte den Rücken ins schwache Licht der Glühbirne: sein Rücken war mit winzigen, rötlich – blauen Narben bedeckt, bohnengroß waren sie – besät, dachte ich, das würde eher stimmen.
‚Mein Gott‘, sagte ich, ‚was ist das?‘
‚Das ist Nettlinger‘, sagte er; ‚sie machen es unten in der alten Kaserne an der Wilhelmskuhle. Ben Wackes und Nettlinger. Sie nennen es Hilfspolizei; sie griffen mich auf bei einer Razzia, die sie im Hafenviertel nach Bettlern hielten: achtunddreißig Bettler an einem Tag verhaftet, einer davon war ich. Wir wurden verhört, mit der Stacheldrahtpeitsche. Sie sagten: ‚Gib doch zu, dass du ein Bettler bist‘, und ich sagte: ‚Ja, ich bin einer.‘“
Immer noch frühstückten verspätete Gäste, sogen Orangensaft wie ein lasterhaftes Getränk in sich hinein; der blasse Junge lehnte an der Tür wie eine Statue, der violette Samt der Uniform ließ seine Gesichtshaut fast grün erscheinen.
„Hugo, Hugo, hörst du, was ich erzähle?“
„Ich, Herr Doktor, ich höre jedes Wort.“
„Bitte, hol mir einen Cognac, einen großen.“
„Ja, Herr Doktor.“
Hart leuchtete Hugo die Zeit entgegen, als er die Treppe zum Restaurant hinunterstieg: der große Kalender, den er morgens zurechtzustecken hatte; die große Pappenummer umgedreht, unter den Monat, unters Jahr geschoben: 6. September 1958. Ihn schwindelte, das alles war geschehen, lang bevor er geboren war, das warf ihn Jahrzehnte, halbe Jahrhunderte zurück: 1885, 1903 und 1935 – weit hinter der Zeit war es verborgen und doch da; es klang aus Fähmels Stimme heraus, der am Billardtisch lehnte, auf den Platz vor Sankt Severin blickte. Hugo hielt sich am Geländer fest, atmete tief, wie jemand, der auftaucht, öffnete die Augen und sprang rasch hinter die große Säule.
22
„Weide meine Lämmer“ – die Weisung Christi an Petrus, von der die katholische Kirche ihren Anspruch auf die Nachfolgeschaft Jesu herleitet (Evangelium Johannes 21, 1. 15 – 19).
23
Als Allgäu wird die Landschaft im Süden des bayerischen Regierungsbezirks Schwaben, sowie ein kleiner Teil Baden-Württembergs bezeichnet.
Der Westerwald ist ein maximal 657 m hohes deutsches Mittelgebirge in den deutschen Bundesländern Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen.
Die Gemeinde Bad Gastein (bis 1996: Badgastein) ist ein Kur- und Wintersportort im Gasteinertal, am Fuß des Graukogels im Naturpark Hohe Tauern. Neben den Kuranwendungen bietet das Tal Gelegenheit zu Erholung und Sport während des ganzen Jahres.
Büffel und Lamm als Gegensatzpaar. Der Büffel als Sinnbild der blinden Gewaltigkeit, der rohen körperlichen Kraft, das Lamm als Verkörperung der Sanftmut und der Milde, der Aufopferung und der Entsühnung. Das Lamm ist altchristlichen Ursprungs und bezeichnet sowohl den christlichen Gläubigen als auch Christus selbst.