Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке. Генрих Бёлль
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Читать онлайн книгу Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке - Генрих Бёлль страница 18
Das Telefon klingelte; angenehm, dass Leonore den Hörer abnahm, ihre Stimme dem unbekannten Anrufer Antwort gab. „Cafe Kroner? Ich werde den Herrn Geheimrat fragen.“
„Wieviel Personen am Abend erwartet werden? Geburtstagsfeier?“ Genügen die Finger einer Hand, sie aufzuzählen? „Zwei Enkel, ein Sohn, ich – und Sie. Leonore, werden Sie mir die Freude machen?“
Also fünf. Die Finger einer Hand genügen. „Nein, keinen Sekt. Alles wie besprochen. Danke, Leonore.“
Wahrscheinlich hält sie mich für verrückt, aber wenn ich’s bin, bin ich’s immer gewesen; ich sah alles voraus, wusste genau, was ich wollte, und wusste, dass ich’s erreichen würde; nur eins wusste ich nie, weiß ich bis heute nicht: warum tat ich es? Des Geldes wegen, des Ruhmes wegen, oder nur, weil es mir Spaß machte? Was hab ich gewollt, als ich an diesem Freitagmorgen, am 6. September 1907, vor einundfünfzig Jahren da drüben aus dem Bahnhof trat? Ich hatte mir Handlungen, Bewegungen, einen präzisen Tageslauf vorgeschrieben, von dem Augenblick an, da ich die Stadt betrat, eine komplizierte Tanzfigur entworfen, in der ich Solotänzer und Ballettmeister in einer Person war; Komparserie und Kulissen standen mir kostenlos zur Verfügung.
Zehn Minuten nur blieben mir, bis der erste Tanzschritt getan werden musste: über den Bahnhofsvorplatz hinaus, am Hotel Prinz Heinrich vorüber, die Modestgasse überqueren und ins Cafe Kroner gehen. An meinem neunundzwanzigsten Geburtstag betrat ich die Stadt. Septembermorgen. Droschkengäule bewachten ihre schlummernden Herren; Hotelboys in der violetten Uniform des Prinz Heinrich schleppten Koffer hinter Gästen her in den Bahnhof; vor Banken wurden würdige Gitter hochgeschoben, rollten mit solidem Geräusch in Reservekammern; Tauben; Zeitungsverkäufer; Ulanen; eine Schwadron ritt am Prinz Heinrich vorüber, der Rittmeister winkte einer Frau mit rosenrotem Hut; sie stand verschleiert auf dem Balkon, warf eine Kusshand zurück, klappernde Hufe auf Kopfsteinpflaster; Wimpel im Morgenwind; Orgeltöne aus der geöffneten Kirchentür von Sankt Severin.
Ich war erregt, nahm den Stadtplan aus der Rocktasche, entfaltete ihn und betrachtete den roten Halbkreis, den ich um den Bahnhof herum gezogen hatte; fünf schwarze Kreuze bezeichneten die Hauptkirche und die vier Nebenkirchen; ich hob die Augen, suchte mir im Morgendunst die vier Kirchturmspitzen zusammen; die fünfte, Sankt Severin, brauchte ich nicht zu suchen, sie stand vor mir, ihr riesiger Schatten machte mich leise frösteln; ich senkte die Augen wieder auf meinen Plan: er stimmte; ein gelbes Kreuz bezeichnete das Haus, wo ich Wohnraum und Atelier für ein halbes Jahr gemietet und vorausbezahlt hatte: Modestgasse 7, zwischen Sankt Severin und dem Modesttor; dort drüben musste es sein, rechts, wo gerade eine Gruppe von Klerikern die Straße überquerte. Ein Kilometer betrug der Radius des Halbkreises, den ich um den Bahnhof herum gezogen hatte: innerhalb dieser roten Linie wohnte die Frau, die ich heiraten würde, ich kannte sie nicht, wusste nicht ihren Namen, wusste nur, dass ich sie aus einem der Patrizierhäuser nehmen würde, von denen mein Vater mir erzählt hatte; der hatte drei Jahre bei den Ulanen hier gedient, Hass in sich eingezogen, Hass auf Pferde und Offiziere, den ich respektierte, ohne ihn zu teilen; ich war froh, dass Vater nicht mehr erleben musste, wie ich selber Offizier wurde: Pionierleutnant der Reserve; ich lachte, ich lachte oft an diesem Morgen vor einundfünfzig Jahren; ich wusste, dass ich meine Frau aus einem dieser Häuser nehmen, dass sie Brodem oder Cusenius, Kilb oder Ferve heißen würde; sie sollte neunzehn sein, kam jetzt, gerade jetzt, in diesem Augenblick aus der Morgenmesse, legte ihr Gebetbuch in der Garderobe ab, kam im rechten Augenblick, um vom Vater den Kuss auf die Stirn zu bekommen, bevor dessen dröhnender Bass sich durch die Diele zum Kontor hin entfernte; zum Frühstück aß sie ein Honigbrot, trank eine Tasse Kaffee; ‚Nein, nein, Mutter, bitte kein Ei‘ —, las der Mutter die Balltermine vor. Durfte sie zum Akademikerball? Sie durfte.
Spätestens auf dem Akademikerball, am 6. Januar, würde ich wissen, welche ich nehmen wollte, würde mit ihr tanzen; ich würde gut zu ihr sein, sie lieben, und sie würde mir Kinder gebären, fünf, sechs, sieben, die würden heiraten und mir Enkel schenken, fünfmal, sechsmal, siebenmal sieben, und während ich den Hufen nachlauschte, die sich entfernten, sah ich meine Enkelschar, sah ich mich als achtzigjährigen Patriarchen über dieser Sippe thronen, die ich zu gründen gedachte: Geburtstagsfeiern, Begräbnisse, silberne und grüne Hochzeiten, Taufen, Säuglinge wurden in meine Greisenhände gelegt, Urenkel, ich würde sie lieben wie meine jungen hübschen Schwiegertöchter, die ich zum Frühstück einladen, denen ich Blumen und Konfekt, Kölnisch Wasser und Gemälde schenken würde; ich wusste es, während ich dort stand, bereit, den Tanz zu beginnen.
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