Soll und Haben. Gustav Freytag
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»Aber Herr Wohlfart«, rief Lenore, die Hände zusammenschlagend.
»Viel mehr als an der Meinung der übrigen liegt mir an Ihrer guten Meinung«, sagte Anton errötend, »und vor Ihnen will ich mich zuerst rechtfertigen.«
»Sie sollen sich aber nicht rechtfertigen, ich verstehe Sie nicht«, rief die junge Dame.
Anton aber erzählte ihr mit fliegenden Worten, was er heute von seinem Prinzipal gehört, und versicherte sie eifrig, daß er von dem Gerücht nichts gewußt habe. »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Lenore vertrauensvoll, »Papa hat auch gesagt, daß es wahrscheinlich ein müßiges Geschwätz sei.« – Sie hielt inne, denn sie dachte in dem Augenblick daran, daß ihr Vater hinzugesetzt hatte, dieser Herr Wohlfart möge ein recht guter Mann sein, aber er passe doch nicht in die Gesellschaft. »Und weil Sie erfahren haben, was man über Sie erzählt, wollen Sie ganz aus der Tanzstunde ausscheiden?«
»Ja, ich will«, sagte Anton, »denn wenn ich hierbliebe, würde ich mich der Gefahr aussetzen, für einen Eindringling oder gar für einen Betrüger gehalten zu werden.«
Lenore warf das Köpfchen zurück und sagte gekränkt und heftig. »So gehen Sie, mein Herr!«
Dies war das beste Mittel, das Gehen unsers Anton zu verhindern, er blieb stehen und sah seine Tänzerin flehend an.
»Warum gehen Sie nicht?« fragte das Fräulein noch heftiger.
Anton wurde sehr bleich; er sah mit tiefem Schmerz in das Gesicht seiner zornigen Dame und sagte mit zitternder Stimme: »Sagen Sie mir wenigstens, daß Sie nicht schlecht von mir denken wollen.«
»Ich werde gar nicht an Sie denken«, rief Lenore mit schneidender Kälte und wandte sich ab.
Der arme Anton stand einen Augenblick wie vernichtet, es war ein bitterer Schmerz, der seine unerfahrene Seele durchbebte. Wäre er zehn Jahre älter gewesen, so hätte er sich diesen heftigen Zorn vielleicht günstiger ausgelegt. Der Gedanke, daß er noch nicht fertig war, gab ihm seine Kraft wieder, er ging aufgerichtet, ja mit stolzem Schritt zu dem Kreise, in welchem Frau von Baldereck die Honneurs machte. Da waren alle die auserwähltesten Damen der Gesellschaft, die lange, hagere Gräfin, eine Tasse Tee trinkend, Eugeniens Mutter und neben ihr eine große Männergestalt; Anton wußte, ohne daß es ihm jemand gesagt hatte, daß der stattliche Herr Lenorens Vater sein müsse. In dem Augenblick, wo er vor die Frau des Hauses trat, seine Verbeugung zu machen, flog sein Blick über die ganze Gesellschaft. Noch viele Jahre nachher lebte der Augenblick in seinem Gedächtnis, noch viele Jahre nachher wußte er die Farbe von jedem Kleide, er konnte noch die Blumen aufzählen, welche in dem Strauß der Baronin Rothsattel waren, ja er erinnerte sich noch an das Bild der gemalten Tasse, aus welcher die Gräfin trank. Die Hausfrau empfing die Verbeugung unseres Helden mit herablassendem Lächeln und war im Begriff, ihm etwas Freundliches zu sagen, als Anton sie unterbrach und mit einer Stimme, die vor Bewegung zitterte, aber laut durch den ganzen Saal tönte, seine Rede begann, so daß nach den ersten Worten eine allgemeine Stille entstand: »Gnädige Frau, ich habe heut erfahren, daß in der Stadt erzählt wird, ich sei reich, ich besitze Güter in Amerika und vornehme Herrschaften nehmen im geheimen ein Interesse an mir. Ich erkläre dies alles für Unwahrheit, ich bin der Sohn des verstorbenen Kalkulators Wohlfart aus Ostrau; ich habe von meinen Eltern fast nichts geerbt als einen ehrlichen, unbescholtenen Namen. Ich bin dem Andenken an meine guten Eltern und mir selbst schuldig, das hier öffentlich zu erklären. Sie, gnädige Frau, haben die hohe Güte gehabt, einen fremden und unbedeutenden Menschen so freundlich in Ihrem Hause aufzunehmen und mich zur Teilnahme an den Tanzstunden dieses Winters aufzufordern. Ich darf nach dem, was ich heute gehört habe, nicht mehr daran teilnehmen, weil mein fernerer Besuch der Tanzstunde den Unwahrheiten, welche man über mich verbreitet hat, Nahrung geben würde und weil ich gar in den Verdacht kommen könnte, ein Betrüger zu sein, welcher die Gastfreundschaft Ihres Hauses mißbraucht. Deshalb sage ich Ihnen meinen innigen Dank für Ihre Güte und bitte Sie, mir ein freundliches Gedächtnis zu bewahren.«
Die Rede war etwas zu pathetisch für den Kreis, in welchem sie wirken sollte, aber sie wirkte doch. Es entstand für einige Augenblicke tiefes Stillschweigen; die Gräfin hielt wie erstarrt ihre Tasse in der Luft zwischen Schoß und Mund, und die Frau vom Hause sah verlegen vor sich nieder.
Anton machte eine tiefe Verbeugung und ging zur Tür.
Da eilte aus der starren Gruppe mit beflügeltem Schritte eine helle Gestalt dem Scheidenden nach, faßte mit ihren Händen seine beiden Hände; Anton sah in Lenorens weinende Augen und hörte noch, wie sie mit weicher Stimme unter Tränen zu ihm sagte: »Leben Sie wohl!« Dann schloß sich die Tür hinter ihm, und alles war vorbei.
Anton ging langsam nach Hause. Es war so ruhig und still in seiner Seele, als wäre er nie in dem Hause hinter ihm gewesen, er sah auf die großen Schneeflocken, welche vor ihm herunterfielen, und freute sich über die Spur, welche die Fußgänger in den weichen Schnee gedrückt hatten. Wenn er Schmerzen fühlte, so waren sie doch ohne Bitterkeit. Er trug sein Haupt stolz und dachte an alles mögliche, woran ein unbefangener Spaziergänger denkt, an seinen Prinzipal und auch an den närrischen Tinkeles, den Fink heut wieder zum Kontor hinausgewiesen. Aber in seinem Ohr klang fortwährend eine Melodie, die neben allen Gedanken forttönte, es waren die Worte Lenorens: ›Leben Sie wohl!‹
In den Salon der gnädigen Frau kehrte das Leben zurück, als er das Zimmer verlassen hatte. Das erste Wort, welches gehört wurde, war der strafende Ruf der Mutter, die ihre Tochter zu sich forderte, welche in der vergangenen Szene eine so auffallende Rolle improvisiert hatte. »Lenore, du hast dich vergessen!« sagte die Mutter leise und bekümmert.
»Laß sie«, sagte der Freiherr mit Geistesgegenwart laut, »die Tochter hat getan, was der Vater hätte tun sollen; der junge Mann hat sich brav gehalten, und wir werden ihm unsere Achtung nicht versagen.«
Unter den übrigen Gruppen aber erhob sich ein Gemurmel, die Einleitung zu lebhafter Unterhaltung. »Das war ja eine wahre Theaterszene«, sagte die Dame vom Hause mit ganz natürlichem Lächeln. »Aber, wer hat uns denn gesagt –«
»Ja, wer hat denn gesagt?« fiel Herr von Tönnchen ein.
Aller Augen richteten sich auf Fink.
»Sie sagten doch, Herr von Fink –«, fing Frau von Baldereck wieder an, sich majestätisch erhebend.
»Jawohl«, fiel Herr von Zernitz ein, »und es ist doch etwas an dem Gerücht, mein Wort darauf! Ich selbst habe bei einem notariellen Akt als Zeuge gedient«, fuhr er unvorsichtig heraus.
»Erklären Sie doch, Fink.«
»Auch ich muß um Erklärung bitten, Herr von Fink«, fuhr die Hausfrau gereizt fort.
»Mich, gnädige Frau?« sagte Fink mit der Ruhe eines Gerechten, dem ein Unrecht geschieht. »Was soll ich von diesem Gerücht wissen? Ich selbst habe ihm widersprochen, soviel ich nur konnte.«
»Ja, das haben Sie«, ließen einzelne Stimmen sich hören, »aber Sie ließen merken –«
»Sie sagten doch –«, fiel Frau von Baldereck ein.
»Was, gnädige Frau?« fragte kalt der unerschütterliche Fink.
»– daß dieser Herr Wohlfart auf geheimnisvolle Weise mit dem – dem Kaiser – in Verbindung stehe.«
»Das ist unmöglich«, antwortete Fink mit größtem Ernst. »Das ist ein arges Mißverständnis! Ich habe Ihnen die Person des