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Windschiefe Gestalten
Maurus Sterzelweg
»Ich bin des Kommerzienrats einziger Sohn,« sagte der Tertianer Marcellus Sterzelweg, »das heißt, ich habe schon noch einen Bruder, aber der ist bucklig.«
Es verhielt sich wirklich so. Sterzelweg, der Großindustrielle, hatte nur zwei Söhne, von denen der eine sein Stolz, der andere sein täglicher Kummer war. Marcellus, der ältere, war gerade gewachsen wie eine Schwarzwaldtanne. Maurus war mit einem Rucksack zwischen den Schulterblättern auf die Welt gekommen und klein und niedrig geblieben wie eine Zirbelkiefer.
Das Schicksal der Brüder war mit der Form ihrer Wirbelsäulen von vornherein bestimmt. Marcellus war der Liebling beider Eltern. Er wurde gekämmt und herausgeputzt, sobald Besuch zu erwarten war, und dann von einem Knie aufs andere geschoben wie eine geschätzte Truhe. Maurus wurde wie ein Wäschekorb aus dem Wege geräumt und in die Mägdekammer gestopft.
Wenn ein Freund des Hauses die Bemerkung wagte: »Nicht wahr, Sie haben doch noch einen Sohn, gnädige Frau?«, so erhielt er die Antwort: »Schon recht, aber er ist im Augenblick nicht so, daß man ihn sehen lassen kann. Er ist noch nicht konfirmiert, und außerdem soll er morgen geimpft werden.«
Wie oft dem kleinen Maurus der Empfang dieser beiden Gnadenmittel angedichtet wurde, wird sich kaum noch durch einen Historiker feststellen lassen. Sicher ist nur, daß der Bucklige nach der Absolvierung der Volksschule aushilfsweise von seinem Vater zu allerlei wichtigen Handlungen im Geschäft Verwendung fand. Er durfte die Tintenfässer der Schreibpulte füllen, für neues Löschpapier sorgen, den Ofen heizen und was dergleichen Vorübungen mehr noch sind, durch die man sich zum Bureaudiener hinaufarbeitet. Als sein Bruder Marcellus die ersten Kragenlitzen aus der Kadettenanstalt in die Ferien brachte, war Maurus schon so weit, daß er Adressen schrieb und die Portokasse verwalten konnte.
Trotzdem ästimierte man ihn nicht nach Gebühr im Elternhause. Man ließ ihn die alten Schuhe seines Bruders auftragen und beglückte ihn zuweilen mit abgelegten Badehosen und Schnurrbartbinden des Kadetten. Tanzunterricht erhielt er natürlich nie. Wozu auch sollte man ihn dem ewig Weiblichen näher bringen? Es war ja abgemacht, daß er ledig bleiben müsse und zu Lasten eines Drehstuhles, der unter einem grünen Lampenschirm im Bureau stand, und zwar gut genug als Erbonkel für die Kinder seines Bruders.
Als Marcellus Leutnant geworden war, gab es ein großes Abendessen im Hause Sterzelweg. Unterschiedliche Direktoren waren geladen, Agenten und Geschäftsfreunde. Maurus war ins Bett geschickt worden mit der Begründung, daß er schlecht aussehe und voraussichtlich wieder einmal die Wasserpocken bekommen werde, die er ja nun über ein dutzendmal gehabt hatte. Ob man ihn auch nicht in seiner Dachkammer oben vergaß, während man unten schwelgte? O, ganz gewiß nicht. Man schickte eine Aushilfsköchin zu ihm hinauf, die in Austernschalen ihm zutrug, was vom Kartoffelsalat übrig geblieben war. Maurus, immerhin der Sprößling eines emporstrebenden Hauses, mußte wissen, daß die Form die Hauptsache sei und nicht der Inhalt, und er durfte es auch nicht wagen, zu versuchen, ob in der dekorierenden Bordeauxflasche noch ein Tropfen Flüssigkeit sei oder nicht. Am nächsten Tage, wo dann seine Kinderkrankheit geheilt war und er wieder am Familientisch erscheinen konnte, war ihm reichlich Gelegenheit geboten, an den Überresten alles das noch nachzuprüfen, was die Zungennerven der Geladenen gekitzelt hatte und was man in Feinschmeckerkreisen Delikatessen nannte. Gewiß, in der Beziehung wurde ihm von seiten der braven Eltern nichts vorenthalten, was den jungen Mann heranbilden konnte, zumal der Feldmann, der Hund, nicht alles fraß, was man ihm vorsetzte, und gegen Senfsaucen und verpfeffertes Hühnerragout eine entschiedene Abneigung zeigte.
Ob Maurus, der nun schon einmal die erste Rekrutenmusterung hinter sich hatte, gar nicht empfand, wie stiefmütterlich er im Elternhause behandelt wurde? Schweigen wir darüber, mit welchem Ingrimm er zuweilen seine Nase in des Bruders zerrissenem Taschentuch putzte. Wie sein Herz blutete, wenn für den Bruder Leutnant der Wagen vorfuhr, während er ohne Regenschirm weggeschickt wurde, um für den erlauchten Herrn die Zahnstocher einzukaufen oder ein Päckchen Zigarettenpapier.
In jener Zeit ereignete es sich, daß Marcellus zum Regimentsadjutanten ernannt wurde und von jetzt ab die Schärpe über die Schulter tragen durfte. So hatten ihn die Leute im Städtchen noch nicht gesehen, und es war nur recht und billig, daß man den Guten, die jahraus, jahrein für die Firma schafften, diesen erhebenden Augenschmaus nicht vorenthielt. Natürlich warʼs, daß des Leutnants Mutter neben dem erhabenen Sprößling nicht unbeachtet bleiben wollte.
Während nun ein Urlaubsgesuch nach der Garnisonsstadt lief, das den Bruder an das erdichtete Krankenbett des Bruders forderte, bekam ein halbes Dutzend Schneiderinnen neue lohnende Beschäftigung in Brabanter Spitzen und Seidentaft, Maurus aber den Auftrag, den Handkarren zu schmieren, um des Herrn Adjutanten Gepäck an der Bahn abzuholen. Die genauere Zeit, wann diese Staatsaktion zu geschehen habe, sollte dem Buckligen erst noch mitgeteilt werden; denn es durfte nicht der Heimtücke des Zufalls überlassen bleiben, daß etwa gar die aufgetakelte Fregatte der Mutter mit der Dreckschute des buckligen Sohnes zusammen auf die Platte irgendeines unberufenen Amateurphotographen gekommen wäre.
Maurus erhielt also am Empfangstage den Auftrag, sich einstweilen in den Magazinen zu beschäftigen, bis der feierliche Einzug seines Bruders ins Elternhaus vorüber sei. Dann erst und wann die beginnende Abenddämmerung das Augenfällige ins Unwahrscheinliche verrückte, sollte er nach dem Bahnhof aufbrechen, und zwar nicht ohne eine Hilfskraft in blauer Leinenschürze mitzuführen. Man hatte keinen Grund, den Leuten die Mäuler aufzureißen und sie hinterher böswillig behaupten zu lassen: Der mit dem krummen Rücken oder das Kamel habe dem mit dem graden Rücken oder dem Giraffen die Last getragen.
Maurus war nicht dumm genug, um all diese Demütigungen ungekränkt übersehen zu können. Er tat nur so, als ob er alles in Ordnung fände, weil er sich durch ein gespanntes Verhältnis zu seinem Vater nicht den Weg versperren wollte zu einer Höhe hinauf, die ihm einen Ausblick ins Hauptbuch hinein und somit in die Gesamtlage des Hauses eröffnen konnte. Vorerst stand ja alles gut. Aber wer mochte denn wissen, bis zu welchen Torheiten die Eltern noch gelangen konnten, wenn sie sich einzig nur von der eitlen Affenliebe zu dem uniformierten Sohne leiten ließen.
Während nun Maurus mit Berechnung vor den Augen seines Vaters nur die niederen Bureaudienste verrichtete, als da sind Staubwischen, Lampenputzen, Bleistiftspitzen und Briefmarkenkleben, ließ er sich heimlich von Bleibtreu, einem alten Faktotum der Firma, in den lampenerhellten Abendstunden in die Geheimnisse der Buchführung einweihen. Er bewunderte zunächst den kalligraphisch gehaltenen Spruch auf dem Titelblatt des Hauptbuchs, der da lautete: »Mit dem Herrn fangʼ alles an!« Als er aber umblätterte und geschrieben fand: Johann August Mayer aus Gräfenhausen soll am 1. Februar zahlen 500 Mark und am 22. 1700, da wurde ihm zweifelhaft, wer mit dem Herrn auf dem Titelblatt gemeint sein könne, ob der im Himmel oder der in Gräfenhausen, und er begriff, daß der kaufmännische Beruf, ähnlich dem des Scharfrichters, nicht ohne einige Grausamkeiten betrieben werden könne.
Nach kurzer Zeit wunderte er sich schon nicht mehr, wenn kurz nachdem ein Brief mit fünf schweren Siegeln an seinen Bruder abgegangen war, ein Zahlungsbefehl an Herrn Mayer abging, nebst einer Drohung mit einem Barometertiefstand des Geschäftskredits. Merkwürdig, was nach fortgesetzten Studien der bucklige Mann nicht alles aus den Büchern herauszulesen vermochte. Er wurde außer einem Wetterpropheten auch noch Physiognomiker und lernte so nach und nach jede Veränderung im Gesichte seines Vaters deuten. Er begriff das gottgefällige Lächeln, mit dem er dem Konsistorialrat tausend Mark auf eine Waisenknabenliste zeichnete, und den satanischen Ingrimm, wenn er etwas hergeben sollte zur Unterstützung zuchthausentlassener Sträflinge. Er verstand aber auch herauszulesen, was im Gatten vorging, wenn die Gattin aufs Bureau kam, sich an sein Pult lehnte und halb schmeichelnd, halb drohend auf ihn einredete. O, wer durchschaut sie jemals ganz, jene Gezeichneten und ihren Spürsinn, mit dem sie sich wehren gegen jene Glücklichen, denen die Natur in reicher Geberlaune alles zugewendet hat, was sie ihren Stiefkindern neidisch vorenthielt, wer die Sehschärfe, mit der sie die Wolle sortieren, die Geschicklichkeit, mit der sie die losen Fäden zu einem Gewebe verknüpfen!