Tagebuch des Verführers. Søren Kierkegaard
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Es war auf dem Wege zwischen dem Nord- und Ostthor. Es mochte ungefähr halb Sieben sein. Die Sonne hatte ihre Kraft verloren, nur die Erinnerung an den Tag leuchtete noch aus dem sanften Abendrot, und die Landschaft war purpurn gefärbt. Die Natur atmete freier. Die See war klar wie ein Glas, die hübschen Gebäude des Bleydammen spiegelten sich im Wasser, das Wasser war in langen Streifen wie Metall dunkel. Der Pfad und die Gebäude des anderen Ufers wurden von schwachen Sonnenstrahlen gezeichnet. Nur hie und da eine leichte Wolke am reinen Himmel, und ihre Bilder glitten hin und verschwanden auf der blanken Stirn der See. Kein Blatt bewegte sich an den Ufern. – Sie war es. Mein Auge betrog mich nicht, doch trotzdem ich mich lange auf diese Stunde vorbereitet hatte, konnte ich meine Unruhe nicht beherrschen. In mir war ein Steigen und Fallen, wie das der Lerche, die über den nahen Feldern mit ihrem Liede stieg und fiel. Sie war allein, wie sie gekleidet war, habe ich vergessen und doch habe ich ein Bild von ihr. Sie war allein, und schien nicht mit sich, sondern mit ihren Gedanken allein zu sein. Sie dachte nicht, aber die Gedanken hatten ein ersehntes Bild vor ihrer Seele auftauchen lassen, ahnungsvoll und unerklärlich, wie die Seufzer eines jungen Mädchens. Sie stand in ihrer schönsten Zeit. Ein junges Mädchen entwickelt sich in mancher Hinsicht nicht wie ein Knabe, sie wächst nicht, sie wird geboren. Ein Knabe fängt sofort an, sich zu entwickeln und braucht dazu lange Zeit, ein junges Mädchen wird lange geboren und wird erwachsen geboren. Darin liegt ihr unendlicher Reichtum; im Augenblick, wo sie geboren wird, ist sie erwachsen, aber dieser Geburtsaugenblick kommt spät. Daher wird sie zweimal geboren, das zweite Mal ist dann, wenn sie sich verheiratet, oder besser: in diesem Augenblick hört sie auf, geboren zu werden, erst in diesem Augenblick ist sie geboren. So geht es nicht nur der Minerva, die vollendet aus Jupiters Stirn springt, nicht bloss der Juno, die in vollem Reiz aus dem Meere auftaucht, so geht es jedem jungen Mädchen, deren Weiblichkeit nicht durch das, was man Entwicklung nennt, verdorben wurde. Sie erwacht nicht allmählich, sondern mit einem Mal. Dagegen träumt sie um so länger, wenn die Menschen nicht so unvernünftig sind, sie zu früh zu wecken. Dieses Träumen ist ein unendliches Reichsein.
Sie war beschäftigt, aber nicht mit sich selbst, sondern in sich selber, und dies innere Arbeiten ihrer Seele war ein unendlicher Friede, eine tiefe Ruhe in sich selber. Das ist eines jungen Mädchens Reichtum, nimmt man diesen Reichtum auf, wird man selbst reich davon. Sie ist reich, ohne zu wissen, was sie besitzt, sie ist reich und ist ein Schatz. Ein stiller Friede war über ihr, und ein zarter Schatten von Wehmut verklärte sie.
Sie schien mir so leicht, als könnte man sie mit einem Blick aufheben, leicht wie Psyche, von der man sagt, Genien können sie forttragen, ja sie war noch leichter, denn sie trug sich selbst fort. Mögen die Kirchenväter über die Himmelfahrt der Madonna streiten, mir ist es nicht unbegreiflich, aber die Leichtigkeit eines jungen Mädchens ist mir unbegreiflich, und spottet allen Gesetzen der Schwere.
Sie bemerkte nichts und glaubte sich deshalb auch unbemerkt. Ich ging von weitem und verschlang ihr Bild. Sie ging langsam, keine Hast störte ihren Frieden oder die Umgebung. Ein Knabe sass am See und angelte, sie blieb stehen, betrachtete den Wasserspiegel und den Kork der Angelschnur. Sie war nicht rasch gegangen, aber sie schien doch warm geworden zu sein, und knüpfte ein kleines Tuch am Hals unter ihrem Shawl auf. Dem Knaben gefiel es wahrscheinlich nicht, dass er beobachtet wurde und schaute sich mit einem gelangweilten Ausdruck nach ihr um. Der kleine Kerl sah dabei so komisch aus, so dass sie über ihn lachen musste. Und wie jugendlich sie lachte! Ihr Auge war gross und leuchtend, mit einem tief dunkeln Spiegel, in dem man Tiefes ahnen konnte, aber er liess sich nicht durchdringen, das Auge war rein und voll Unschuld, sanft und ruhig, und schelmisch, wenn sie lächelte. Ihre Nase war fein gebogen, von der Seite betrachtet, wurde sie etwas kürzer und kecker. Sie ging weiter gegen das Ostthor. Ich ging ihr nach, glücklicherweise waren mehrere Spaziergänger auf dem Weg, ich sprach bald mit dem einen und dem andern, und liess sie dadurch einen kleinen Vorsprung gewinnen, ich holte sie dann bald wieder ein, und brauchte auf diese Weise nicht immer gleichen Abstand mit ihr zu halten. Gern hätte ich sie, ohne selbst gesehen zu werden, näher gesehen. Von einem Hause einer mir bekannten Familie aus, das am Wege liegt, wäre das leicht möglich gewesen. Ich musste derselben also nur einen kurzen Besuch machen. Mit schnellen Schritten, als ob ich .sie gar nicht bemerkte, eilte ich an ihr vorüber. Ich überholte sie eine gute Strecke, begrüsste die Familie und stellte mich am Fenster, das nach der Strasse zu ging, scheinbar absichtslos, auf. Sie kam, ich sah sie an, betrachtete sie wieder und noch einmal, zugleich unterhielt ich mich mit der in der Wohnstube am Theetisch sitzenden Gesellschaft. Ihr Gang überzeugte mich, sie hatte noch keinen Tanzunterricht genommen, denn sie ging mit Stolz und natürlichem Adel und ohne Aufmerksamkeit auf sich selbst. Ich konnte von dem Fenster nicht die ganze Strasse sehen, nur eine kurze Strecke davon, und eine zum See führende Brücke. Zu meiner Überraschung entdeckte ich sie bald dort. Wohnte sie vielleicht draussen auf dem Lande ? Vielleicht wohnte ihre Familie dort für den Sommer. Da ich sie am äussersten Brückenende sah, schien mir wie ein Zeichen, als müsse sie jetzt wieder für mich verschwinden.
Siehe, da zeigt sie sich wieder ganz nahe. Sie war an dem Haus vorbeigegangen und ich greife rasch nach Hut und Stock, um ihr zu folgen, zu erfahren, wo sie wohne – als ich in meiner Hast gegen die Dame, die den Thee reicht, anrenne. Ich höre einen fürchterlichen Schrei, habe aber nur den einen Gedanken, wie ich glücklich hinauskomme; um einen Rückzug zu entschuldigen, sage ich pathetisch: »wie Kain will ich den Ort fliehen, an welchem dieses Theewasser verschüttet wurde.« Aber wie wenn alles gegen mich sich verschworen hätte, kommt der Wirt auf die verzweifelte Idee, sich an meine Bemerkung zu hängen und erklärt feierlich, er würde mir das Haus zu verlassen nicht eher erlauben, als bis ich eine Tasse Thee getrunken und den Damen selber den Thee gereicht habe, nur dadurch könne ich alles gut machen. Ich war davon überzeugt, man werde es als Pflicht der Höflichkeit betrachten, Gewalt anzuwenden, wenn ich nicht willig folgte, und so musste ich bleiben. – Sie war verschwunden.
16. Mai. Wie schön ist es, verliebt zu sein, wie sonderbar, zu wissen, dass man es ist! Das