Gesammelte Erzählungen von Rudyard Kipling (116 Titel in einem Band). Rudyard 1865-1936 Kipling

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Gesammelte Erzählungen von Rudyard Kipling (116 Titel in einem Band) - Rudyard 1865-1936 Kipling

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Was hetzt dich so? Was ist deine Not?

       Bruder, ich sterbe, mich hetzt der Tod.

      Als Mogli nach dem Kampf mit dem Rudel am Ratsfelsen die Höhle seiner Wolfseltern verließ, wußte er wohl, daß er sich manchen Todfeind geschaffen hatte. Er wollte deshalb nicht in allzu großer Nähe der Dschungel bleiben und lief in gleichmäßigem Wolfstrabe mindestens dreißig Kilometer talabwärts, den bebauten Feldern der Menschen zu, bis er in eine ihm unbekannte Gegend kam. Vor ihm öffnete sich eine große Ebene, die mit Felsblöcken übersät und von tiefen Einschnitten durchfurcht war. An dem einen Ende stand ein kleines Dorf, am andern drang die Dschungel bis dicht zu den Weidegründen vor und hörte dann plötzlich wie abgeschnitten auf. Auf den grünen Wiesen grasten friedlich Rinder und Büffel; sobald aber die kleinen Jungen, welche die Herde hüteten, Mogli erblickten, rannten sie schreiend davon, und die gelben herrenlosen Hunde, die um jedes indische Dorf herumlungern, erhoben wütendes Gekläff. Mogli trabte weiter, denn er war hungrig, und als er zum Dorfgatter kam, sah er, daß das dichte Dorngeflecht, mit dem der Dorfeingang beim Einbruch der Dämmerung verschlossen wurde, zur Seite gesetzt war.

      »Umpf!« stieß Mogli hervor, »auch hier fürchtet der Mensch die Völker der Dschungel!« – denn oft war er auf seinen nächtlichen Streifzügen nach Nahrung auf solche Schutzwehren gestoßen. Er hockte am Tor nieder, und als ein Mann herauskam, stand er auf, öffnete den Mund und zeigte mit dem Finger hinein, um anzudeuten, daß er essen wolle. Der Mann starrte ihn an, lief fort und schrie laut nach dem Priester. Der Priester, ein dicker Mann im weißen Gewand, mit einem rot-gelben Zeichen auf der Stirne, kam an der Spitze eines Haufens von mindestens hundert Leuten herbei. Sie alle gafften Mogli an, schwatzten und riefen und deuteten mit den Fingern auf ihn.

      »Sie haben keine Lebensart, diese Menschenvölker«, dachte sich Mogli. »Nur die grauen Affen benehmen sich so!« Er warf seine langen Haare trotzig zurück und starrte düster die Menge an.

      »Wovor fürchtet ihr euch denn?« fragte der Priester. »Seht doch die Narben an seinen Armen und Beinen. Das sind Wolfsbisse. Ein Wolfskind ist es, der Dschungel entlaufen, nichts weiter.«

      Beim Spielen hatten die jungen Wölfe natürlich manchmal härter zugebissen, als es in ihrer Absicht lag, und so waren seine Arme und Beine mit weißen Narben bedeckt. Mogli aber wäre es niemals eingefallen, solche Zärtlichkeiten »Bisse« zu nennen, denn er wußte viel zu gut, was richtiges Beißen war.

      »Arré! Arré!« riefen die Frauen mitleidig. »Von Wölfen zerbissen! Das arme Kind! Ein hübscher Bursche ist er. Hat Augen wie glühendes Feuer. Wahrhaftig, Messua, sieht er nicht deinem Sohn ähnlich, den der Tiger damals davonschleppte?«

      »Laßt sehen«, sagte eine Frau mit schweren Kupferringen an Armen und Fußgelenken. Sie drängte sich vor, schützte die Augen mit den Händen und betrachtete Mogli aufmerksam. »O nein!« sagte sie. »Er ist viel dünner – aber – wirklich – es ist wahr …, im Gesicht sieht er ihm ganz ähnlich!«

      Der Priester war ein kluger Mann und Messua die Frau des reichsten Bauern im Dorfe. So blickte er denn gen Himmel auf und sprach mit feierlicher Stimme: »Was die Dschungel nahm, gab die Dschungel zurück. Nimm den Knaben in dein Haus, meine Schwester, und vergiß nicht, den Priester zu ehren, der tiefen Einblick hat in das Leben der Menschen.«

      »Bei dem Bullen, um den Baghira mich kaufte«, dachte Mogli, »dieses Schwatzen und Anstarren kommt mir ganz so vor wie die Aufnahme im Rudel. Oah! Es kann nichts helfen – wenn ich nun einmal ein Mensch bin, so muß ich einer bleiben!« Die Frau deutete Mogli durch Zeichen an, ihr zu folgen, und die braune, schwatzende Menge geleitete sie bis zu einem alleinstehenden, niedrigen Hause im Dorfe. Als Mogli argwöhnisch eingetreten war, sah er allerlei merkwürdige Gegenstände. Da stand ein großer Kasten, mit bunten Farben bemalt – das war das Bett. Und zur Seite ein rundes Gefäß, ein großer irdener Behälter, in dem Getreide aufbewahrt wurde, und Mogli erstaunte, als er an den Seiten des irdenen Kruges kleine Kühe und Bäume eingepreßt sah, die sich nicht bewegten und kein Lebenszeichen von sich gaben.

      Ganz merkwürdig war auch ein dicker Hindugötze, der aus einer Nische an der Wand hervorgrinste – aber vor allem schien Mogli ein Stück Glas unerklärlich, in dem man seine eigenen Ohren und Augen, sein Gesicht und seinen ganzen Körper sehen konnte – viel besser als in irgendeinem Teiche.

      Messua gab ihm Milch, und Mogli trank in langen, durstigen Zügen. Dann gab sie ihm weiches, schönes Brot, und während er aß, sah sie ihm tief in die Augen. Sie seufzte, denn sie wollte gern Gewißheit haben, ob er auch wirklich ihr Sohn sei, den der Tiger fortgeschleppt hatte und der nun aus der Dschungel zurückkäme. Sie legte die Hand auf seine Schulter und sagte: »Nathu, o mein Nathu!« Mogli zeigte durch nichts, daß er den Namen kenne. »Erinnerst du dich nicht an die neuen Schuhe, die ich dir gab eines Morgens?« Sie befühlte seinen Fuß und fand ihn fest und hart wie Horn. »Nein!« meinte sie betrübt. »Diese Füße haben niemals Schuhe getragen … aber sehr gleichst du meinem Nathu, und du sollst nun mein Sohn sein.«

      Mogli fühlte sich sehr unbehaglich, denn er hatte noch nie ein Dach über sich gehabt; ein Blick auf die schwachen Dachsparren lehrte ihn, daß er jederzeit dort hindurch könnte, wenn er entweichen wollte, und auch die Fenster der Hütte waren unverwahrt und nicht verriegelt.

      »Was nützt es mir denn, Mensch zu sein, wenn ich die Menschensprache nicht verstehe?« sagte er zu sich. »Ich bin hier so dumm und stumm, wie ein Mensch sein würde unter uns in der Dschungel. Ich muß ihre Sprache erlernen!«

      Er hatte nicht umsonst gelernt, den Lockruf der Hirsche und das Grunzen der kleinen Wildschweine nachzuahmen. Sobald Messua ein Wort aussprach, wiederholte Mogli es mit wunderbarer Genauigkeit, und ehe der Abend herbeikam, wußte er bereits den Namen vieler Gegenstände in der Hütte.

      Als die Schlafenszeit nahte, stellte sich eine neue Schwierigkeit ein, denn Mogli war durch nichts zu bewegen, in der Hütte zu schlafen, die einer Pantherfalle allzu ähnlich sah. »Laß ihm seinen Willen«, sagte Messuas Gatte. »Bedenke, er hat wohl noch niemals in einem Bett geschlafen. Wenn er uns wirklich an Stelle unseres Sohnes gesandt wurde, so wird er schon nicht fortlaufen.«

      Und so kam es, daß Mogli sich gemächlich im weichen, grünen Gras am Rande des Feldes ausstreckte. Als er gerade müde seine Augen geschlossen hatte, fühlte er am Kinn den sanften Stoß einer kalten, feuchten Nase.

      »Puh!« maunzte Graubruder (er war der älteste von Mutter Wolfs Kindern), »das nenne ich mir eine schlechte Belohnung für die zwanzig Meilen, die ich deinetwegen gelaufen bin! Abscheulich! Du riechst schon ganz wie ein Mensch nach Rauch und Herdenvieh – wache auf, kleiner Bruder, ich bringe Neues von der Dschungel!«

      »Sind alle wohlauf?« fragte Mogli, ihn liebevoll zausend.

      »Alle, nur die Wölfe sind vergrämt, deren Fell du mit der roten Blume sengtest. Nun höre, Schir Khan ist auf und davon, in fernen Gründen will er jagen, bis sein Fell wieder heil ist, das du ihm nicht schlecht verbrannt hast. Aber er hat geschworen, wenn er wieder zurück ist, will er deine Knochen in den Waingunga werfen.«

      »Auch ich habe einen Schwur getan. Doch davon später. Neuigkeiten sind immer willkommen. Sehr müde bin ich heut nacht, die Augen fallen mir zu, und der Kopf schwirrt mir von all den Dingen, die ich gesehen habe. Aber, Graubruder, du mußt mir immer Nachricht bringen.«

      »Und wirst du dich auch immer daran erinnern, daß du ein Wolf bist? Wirst du uns nicht der Menschen wegen ganz und gar vergessen?«

      »Niemals. Ich werde dich immer lieb behalten, dich und alle in der Höhle, aber ich werde auch niemals vergessen, daß man mich ausgestoßen hat aus dem Rudel!«

      »Jawohl, und … daß sie dich vielleicht

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