Aphorismen zur Lebensweisheit. Arthur Schopenhauer

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Aphorismen zur Lebensweisheit - Arthur  Schopenhauer

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Untersuchung, fast die Hälfte aller Bekümmernisse und Aengste, die wir jemals empfunden haben, hervorgegangen sehn. Denn sie liegt allem unserm, so oft gekränkten, weil so krankhaft empfindlichen, Selbstgefühl, allen unsern Eitelkeiten und Prätensionen, wie auch unserm Prunken und Großthun, zum Grunde. Ohne diese Sorge und Sucht würde der Luxus kaum 1/10 dessen seyn, was er ist. Aller und jeder Stolz, point d’honneur und puntiglio, so verschiedener Gattung und Sphäre er auch seyn kann, beruht auf ihr, – und welche Opfer heischt sie da nicht oft! Sie zeigt sich schon im Kinde, sodann in jedem Lebensalter, jedoch am stärksten im späten; weil dann, beim Versiegen der Fähigkeit zu sinnlichen Genüssen, Eitelkeit und Hochmuth nur noch mit dem Geize die Herrschaft zu theilen haben. Am deutlichsten läßt sie sich an den Franzosen beobachten, als bei welchen sie ganz endemisch ist und sich oft in der abgeschmacktesten Ehrsucht, lächerlichsten National-Eitelkeit und unverschämtesten Prahlerei Luft macht; wodurch dann ihr Streben sich selbst vereitelt, indem es sie zum Spotte der andern Nationen gemacht hat und die grande nation ein Neckname geworden ist. Um nun aber die in Rede stehende Verkehrtheit der überschwänglichen Sorge um die Meinung Anderer noch speciell zu erläutern, mag hier ein, durch den Lichteffekt des Zusammentreffens der Umstände mit dem angemessenen Charakter, in seltenem Grade begünstigtes, recht superlatives Beispiel jener in der Menschennatur wurzelnden Thorheit Platz finden, da an demselben die Stärke dieser höchst wunderlichen Triebfeder sich ganz ermessen läßt. Es ist folgende, den Times vom 31. März 1846 entnommene Stelle aus dem ausführlichen Bericht von der soeben vollzogenen Hinrichtung des Thomas Wix, eines Handwerksgesellen, der aus Rache seinen Meister ermordet hatte: An dem zur Hinrichtung festgesetzten Morgen fand sich der hochwürdige Gefängnißkaplan zeitig bei ihm ein. Allein Wix, obwohl sich ruhig betragend, zeigte keinen Antheil an seinen Ermahnungen: vielmehr war das Einzige, was ihm am Herzen lag, daß es ihm gelingen möchte, vor den Zuschauern seines schmachvollen Endes, sich mit recht großer Bravour zu benehmen. – – – Dies ist ihm denn auch gelungen. Auf dem Hofraum, den er zu dem, hart am Gefängniß errichteten Galgenschaffot zu durchschreiten hatte, sagte: er: Wohlan denn, wie Doktor Dodd gesagt hat, bald werde ich das große Geheimniß wissen! Er ging, obwohl mit gebundenen Armen, die Leiter zum Schaffot ohne die geringste Beihülfe hinauf: daselbst angelangt machte er gegen die Zuschauer, rechts und links, Verbeugungen, welche denn auch mit dem donnernden Beifallsruf der versammelten Menge beantwortet und belohnt wurden, u. s. w. – Dies ist ein Prachtexemplar der Ehrfucht, den Tod, in schrecklichster Gestalt, nebst der Ewigkeit dahinter, vor Augen, keine andere Sorge zu haben, als die um den Eindruck auf den zusammengelaufenen Haufen der Gaffer und die Meinung, welche man in deren Köpfen zurücklassen wird! – Und doch war eben so der im selben Jahr in Frankreich, wegen versuchten Königsmordes, hingerichtete Lecomte, bei seinem Proceß hauptsächlich darüber verdrießlich, daß er nicht in anständiger Kleidung vor der Pairskammer erscheinen konnte, und selbst bei seiner Hinrichtung war es ihm ein Hauptverdruß, daß man ihm nicht erlaubt hatte, sich vorher zu rasiren. Daß es auch ehemals nicht anders gewesen, ersehen wir aus Dem, was Mateo Aleman, in der, seinem berühmten Romane, Guzman de Alfarache, vorgesetzten Einleitung (declaracion) anführt, daß nämlich viele bethörte Verbrecher die letzten Stunden, welche sie ausschließlich ihrem Seelenheile widmen sollten, diesem entziehn, um eine kleine Predigt, die sie auf der Galgenleiter halten wollen, auszuarbeiten und zu memoriren. – An solchen Zügen jedoch können wir selbst uns spiegeln: denn kolossale Fälle geben überall die deutlichste Erläuterung. Unser Aller Sorgen, Kümmern, Wurmen, Aergern, Aengstigen, Anstrengen u. s. w. betrifft, in vielleicht den meisten Fällen, eigentlich die fremde Meinung und ist eben so absurd, wie das jener armen Sünder. Nicht weniger entspringt unser Neid und Haß größtentheils aus besagter Wurzel.

      Offenbar nun könnte zu unserm Glücke, als welches allergrößtentheils auf Gemüthsruhe und Zufriedenheit beruht, kaum irgend etwas so viel beitragen, als die Einschränkung und Herabstimmung dieser Triebfeder auf ihr vernünftig zu rechtfertigendes Maaß, welches vielleicht 1/50 des gegenwärtigen seyn wird, also das Herausziehn dieses immerfort peinigenden Stachels aus unserm Fleisch. Dies ist jedoch sehr schwer: denn wir haben es mit einer natürlichen und angeborenen Verkehrtheit zu thun. Etiam sapientibus cupido gloriae novissima exuitur sagt Tacitus (hist. IV, 6.). Um jene allgemeine Thorheit los zu werden, wäre das alleinige Mittel, sie deutlich als eine solche zu erkennen und zu diesem Zwecke sich klar zu machen, wie ganz falsch, verkehrt, irrig und absurd die meisten Meinungen in den Köpfen der Menschen zu seyn pflegen, daher sie, an sich selbst, keiner Beachtung werth sind; sodann, wie wenig realen Einfluß auf uns die Meinung Anderer, in den meisten Dingen und Fällen, haben kann; ferner, wie ungünstig überhaupt sie meistentheils ist, so daß fast Jeder sich krank ärgern würde, wenn er vernähme, was Alles von ihm gesagt und in welchem Tone von ihm geredet wird; endlich, daß sogar die Ehre selbst doch eigentlich nur von mittelbarem und nicht von unmittelbarem Werthe ist u. dgl. m. Wenn eine solche Bekehrung von der allgemeinen Thorheit uns gelänge; so würde die Folge ein unglaublich großer Zuwachs an Gemüthsruhe und Heiterkeit und ebenfalls ein festeres und sichereres Auftreten, ein durchweg unbefangeneres und natürlicheres Betragen seyn. Der so überaus wohlthätige Einfluß, den eine zurückgezogene Lebensweise auf unsere Gemüthsruhe hat, beruht größtentheils darauf, daß eine solche uns dem fortwährenden Leben vor den Augen Anderer, folglich der steten Berücksichtigung ihrer etwanigen Meinung entzieht und dadurch uns uns selber zurückgiebt. Imgleichen würden wir sehr vielem realen Unglück entgehn, in welches nur jenes rein ideale Streben, richtiger jene heillose Thorheit, uns zieht, würden auch viel mehr Sorgfalt für solide Güter übrig behalten und dann auch diese ungestörter genießen. Aber, wie gesagt, χαλεπα τα καλα.

      Die hier geschilderte Thorheit unsrer Natur treibt hauptsächlich drei Sprößlinge: Ehrgeiz, Eitelkeit und Stolz. Zwischen diesen zwei letzteren beruht der Unterschied darauf, daß der Stolz die bereits feststehende Ueberzeugung vom eigenen überwiegenden Werthe, in irgend einer Hinsicht, ist; Eitelkeit hingegen der Wunsch, in Andern eine solche Ueberzeugung zu erwecken, meistens begleitet von der stillen Hoffnung, sie, in Folge davon, auch selbst zu der seinigen machen zu können. Demnach ist Stolz die von innen ausgehende, folglich direkte Hochschätzung seiner selbst; hingegen Eitelkeit das Streben, solche von außen her, also indirekt zu erlangen. Dem entsprechend macht die Eitelkeit gesprächig, der Stolz schweigsam. Aber der Eitele sollte wissen, daß die hohe Meinung Anderer, nach der er trachtet, sehr viel leichter und sicherer durch anhaltendes Schweigen zu erlangen ist, als durch Sprechen, auch wenn Einer die schönsten Dinge zu sagen hätte. – Stolz ist nicht wer will, sondern höchstens kann wer will Stolz affektiren, wird aber aus dieser, wie aus jeder angenommenen Rolle bald herausfallen. Denn nur die feste, innere, unerschütterliche Ueberzeugung von überwiegenden Vorzügen und besonderm Werthe macht wirklich stolz. Diese Ueberzeugung mag nun irrig seyn, oder auch auf bloß äußerlichen und konventionellen Vorzügen beruhen, – das schadet dem Stolze nicht, wenn sie nur wirklich und ernstlich vorhanden ist. Weil also der Stolz seine Wurzel in der Ueberzeugung hat, steht er, wie alle Erkenntniß, nicht in unsrer Willkür. Sein schlimmster Feind, ich meyne sein größtes Hinderniß, ist die Eitelkeit, als welche um den Beifall Anderer buhlt, um die eigene hohe Meinung von sich erst darauf zu gründen, in welcher bereits ganz fest zu seyn die Voraussetzung des Stolzes ist.

      So sehr nun auch durchgängig der Stolz getadelt und verschrieen wird; so vermuthe ich doch, daß dies hauptsächlich von Solchen ausgegangen ist, die nichts haben, darauf sie stolz seyn konnten. Der Unverschämtheit und Dummdreistigkeit der meisten Menschen gegenüber, thut Jeder, der irgend welche Vorzüge hat, ganz wohl, sie selbst im Auge zu behalten, um nicht sie gänzlich in Vergessenheit gerathen zu lassen: denn wer, solche gutmüthig ignorirend, mit Jenen sich gerirt, als wäre er ganz ihres Gleichen, den werden sie treuherzig sofort dafür halten. Am meisten aber möchte ich solches Denen anempfehlen, deren Vorzüge von der höchsten Art, d. h. reale, und also rein persönliche sind, da diese nicht, wie Orden und Titel, jeden Augenblick durch sinnliche Einwirkung in Erinnerung gebracht werden: denn sonst werden sie oft genug das sus Minervam exemplificirt sehn. Scherze mit dem Sklaven; bald wird er dir den Hintern zeigen – ist ein vortreffliches Arabisches Sprichwort, und das Horazische

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