Gesammelte Werke. George Sand
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– Du, du bist ein Engel, sagte Anzoleto, indem er sie küsste. Ach, mein Trost! wie sind die anderen Herzen so ungetreu und so hart!
– O, was ist dir geschehen? was haben sie da unten dem »Sohn meiner Seele« getan? rief Consuelo, in den anmutigen venetianischen Dialekt die kühnen und leidenschaftlichen Bilder ihrer Muttersprache mischend.
Anzoleto erzählte nun alles was ihm begegnet war, auch seine Galanterien bei der Corilla und besonders die Lockungen die er von ihr erfahren hatte. Nur erzählte er die Dinge auf eine gewisse Art, indem er alles das sagte was Consuelo nicht betrüben konnte, da er, wirklich und mit Willen, ihr doch treu geblieben war, und es war »so ziemlich« die ganze Wahrheit. Es gibt aber ein Partikelchen Wahrheit, das noch keine gerichtliche Untersuchung jemals an den Tag gebracht, das noch kein Client seinem Advocaten je bekannt, das noch kein Urteil jemals, außer zufällig, getroffen hat, und gerade in dieser Kleinigkeit von Tatbestand oder Absicht, welche unenthüllt bleibt, liegt das Wesen der Sache, der Beweggrund, das Endziel, kurz das gesuchte Wort all dieser großen Rechtshandlungen, die stets so schlecht geführt und stets so schlecht entschieden werden, wie groß auch immer die Hitze der Redner und die Kälte der Richter sei.
Um auf Anzoleto zurückzukommen, so braucht nicht erst gesagt zu werden, welche kleinen Sünden er verschwieg, welche glühenden Regungen er auf seine Art übersetzte und welche in der Gondel erstickte Wallungen er zu erwähnen vergaß. Ich glaube sogar, dass er von der Gondel gar nicht sprach, und die der Sängerin erwiesenen Artigkeiten als Kunstgriffe darstellte, mit deren Hilfe er, ohne sie zu erzürnen, den gefährlichen Avanzen womit sie ihn überhäufte, geschickt entkommen wäre. Warum aber, wenn er doch einmal nicht alles verraten wollte noch konnte, nämlich nicht die Stärke der Versuchungen, welche er aus Klugheit und aus richtigem Takt überwunden hatte, warum – so fragst du, liebe Leserin – hat dieser junge Schelm sich in die Gefahr gebracht, Consuelo’s Eifersucht aufzuwecken? Das fragen Sie mich, Madame! Sagen Sie mir doch, ob Sie nicht Ihrem Liebsten, ich meine, dem Gatten Ihrer Wahl alle Huldigungen, die von anderen Ihnen dargebracht wurden, alle Verderber, die Sie abgewiesen haben, alle Nebenbuhler, die Sie ihm, nicht allein vor der Ehe, sondern jeden Balltag, gestern, heute noch, geopfert, aufzuzählen pflegen! Wohlan Madame, wenn Sie schön sind, und es macht mir Freude dies zu glauben, so wette ich meinen Kopf, Sie machen es nicht anders als Anzoleto, nicht um Ihren Wert zu zeigen, nicht um ein eifersüchtiges Gemüt zu quälen; nicht um ein Herz stolz zu machen, das schon zu stolz auf Ihre Vorzüge ist, sondern weil es süß ist, jemanden zur Seite zu haben, dem man solche Dinge mitteilen kann, ganz in dem Scheine als erfüllte man damit lediglich seine Pflicht, und zu beichten, indem man vor dem Beichtiger prahlt. Nur beschränkt sich auch Ihre Beichte, Madame, auf »so ziemlich alles.« Es ist nur ein ganz kleines Etwas dabei, von welchem Sie schweigen: der Blick etwa, das Lächeln, wodurch Sie die unverschämte Erklärung des Frechen, über den Sie sich beklagen, herausgefordert haben. Dieses Lächeln, dieser Blick, dieses Etwas ist eben die Gondel, von welcher Anzoleto, froh, den Rausch des Abends in der Erinnerung noch einmal laut durchzugehen, seiner Consuelo zu erzählen vergaß. Die kleine Spanierin wusste zu ihrem Glücke noch nicht, was Eifersucht sei: diese schwarze, bittere Regung steigt nur in den Seelen auf, die viel gelitten haben, und Consuelo war bis dahin eben so glücklich in ihrer Liebe, als ihr Herz gut war. Der einzige Umstand, der auf sie einen tiefen Eindruck machte, war die ebenso schmeichelhafte als strenge Weissagung, welche ihr verehrter Meister, der Professor Porpora über Anzoleto’s Haupt gesprochen hatte. Sie ließ sich von ihm die Worte des Meisters wiederholen, und nachdem er sie ihr genau vorgetragen, dachte sie lange nach und verharrte schweigend.
– Consuelina, sagte Anzoleto zu ihr, der nicht sehr auf ihr Träumen geachtet hatte, ich muss dir gestehen, dass die Luft außerordentlich frisch ist. Hast du nicht Furcht, dich zu erkälten? Bedenke nur, Liebe! dass unsere Zukunft noch mehr von deiner Stimme abhängt, – als von der meinigen …
– Ich erkälte mich nie, entgegnete sie. Aber du, mit deinen schönen Kleidern, die so leicht sind! Da, wickle dich in meine Mantille. – Was soll mir dies arme durchlöcherte Fähnchen Taft helfen? … Ich möchte viel lieber ein halbes Stündchen in deiner Stube unter Obdach sein.
– Gut, sagte Consuelo, aber da darfst du nicht sprechen; denn wenn uns die Nachbarn hörten, so würden sie uns Schande machen. Sie sind nicht schlecht: sie machen mir nicht viel Not um unsere Liebschaft, die sie sehen, denn sie wissen wohl, dass du, des nachts nie zu mir kommst. Du tätest auch besser, wenn du nach Hause schlafen gingest.
– Ich kann ja nicht; es wird erst aufgemacht, wenn es Tag ist, und ich müsste noch drei Stunden frieren. Sieh nur, wie mir die Zähne im Munde klappern!
– So komm denn, sagte Consuelo aufstehend; ich will dich in meine Stube einschließen und dann werde ich wieder an die Terrasse gehen, damit, wenn uns einer aufpassen sollte, er auch sehe, dass ich nichts Anstößiges tue.
Sie führte ihn wirklich in ihr Zimmer. Es war ein ziemlich großer, verfallener Saal, in welchem die auf den Wänden einst gemalten Blumen, unter einem zweiten gröberen und fast schon ebenso beschädigten Anstrich hin und wieder durchblickten. Ein großes viereckiges Bettgestell aus Holz mit einem Strohsack von Seegras und einer ganz sauberen, aber an hundert Stellen mit Läppchen von allen Farben geflickten Piquédecke, ein Strohstuhl, ein Tischchen, eine sehr alte Guitarre und ein Christkind von Drahtarbeit, die Reichtümer welche ihre Mutter ihr hinterlassen; ein kleines Spinett und ein großes Pack alter wurmstichiger Musikalien, Sachen die Professor Porpora ihr aus besonderer Güte geliehen hatte – mit diesem Hausrat behalf sich die junge Künstlerin, einer armen Zigeunerin Kind, die Schülerin eines großen Meisters und die Geliebte eines schönen Abenteurers.
Da nur Ein Stuhl da war und der Tisch voll Musikalien lag, so blieb für Anzoleto kein Sitz als das Bett, und dazu machte er es auch ohne Umstände. Kaum hatte er sich aber auf den Rand desselben gesetzt, als ihn die Müdigkeit überwältigte: er ließ seinen Kopf auf ein großes Wollenpfühl, das als Kopfkissen diente, niedersinken und sagte: o du, mein Weibchen, wollte ich doch in diesem Augenblicke alles was ich noch zu leben habe um eine Stunde guten Schlafes geben, und alle Schätze der Welt um