Damals bei uns daheim. Hans Fallada
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Mutter war nahe am Weinen. Wären nur Freunde dagewesen, sie hätte geweint. Aber es war manch eine unter den weiblichen Gästen, der sie den Gefallen nicht tun wollte, sie weinen zu sehen.
»Schnell!« sagte mein Vater zu den Lohndienern. »Die Bestecke einsammeln und abwaschen lassen! Nein, alles, auch die Messer und Gabeln …, man weiß ja nicht …«
Und mit einem Lächeln zu allen Gästen: »Kinder … Kinder … Sie wissen es ja alle, wie es ist, wo Kinder sind. Irgendein unbegreiflicher Kinderstreich!« Energischer: »Den ich aber bald begreifen werde!«
Aber nun erhob sich Widerspruch. Die meisten waren für einen Racheakt. Diese Dienstboten … ein uferloses Thema. Diese Lohndiener – ein ebenso uferloses Thema. Die Wartezeit, bis die Bestecke abgewaschen waren, verstrich auf das angenehmste, bis der Ruf »Attention, les servants!« erscholl.
Nur meine Mutter war ins Herz getroffen – wer konnte ihr dies nur angetan haben, wer nur –?! Auf Fiete riet sie nicht, auf Fiete riet keiner. Ihr Meckern über das Essen, ihre Klagen über die Löffelbenutzung waren so gewohnheitsgemäß, dass schon seit langem niemand sie mehr beachtete. Das Ereignis verlor sich allmählich im Strudel der Zeit, in dem alle Ereignisse, die einen schnell, die andern langsamer, untertauchen …
Freilich musste an diesem Abend meine Mutter doch noch weinen. Die Kollegenfrau Siedeleben, die meiner Mutter wegen ihres patronisierenden Wesens besonders unangenehm war, sagte beim Abschied huldvoll: »Es war wirklich ganz reizend! Und immer passiert etwas Interessantes bei Ihnen, so etwas ganz außer dem Rahmen dessen, was wir hier in der Großstadt gewöhnt sind.« (Sie vergaß nie, meine Mutter daran zu erinnern, dass sie aus einer hannöverschen Kleinstadt stammte.) »Wirklich so anregend!«
Da weinte meine Mutter, Gott sei Dank erst, als alle gegangen waren, an Vaters Brust.
»Es passiert immer wieder etwas Neues, Louise!« sagte mein Vater tröstend. »Pass auf, in vier Wochen wird von etwas ganz anderem geredet! Warte, übernächsten Donnerstag ist Diner bei Siedelebens, vielleicht passiert bei denen auch mal was!«
»Bei denen nie!« rief meine Mutter weinend. »Diese kalte Person! Die ist nichts wie ein Anstandsbuch!«
»Wir wollen es ja nicht wünschen«, meinte mein Vater. »Aber wer weiß, wer weiß …«
Doch ging das Siedelebensche Diner ohne jeden Zwischenfall vorüber. Alles lief wie am Schnürchen, es gab weder abgeleckte Löffel, noch fehlten Baumkuchennasen, auch war kein Lohndiener betrunken. Genau wie ein Uhrwerk rollte das Festessen ab. Die Weine waren vorzüglich, das Dessert bezaubernd, die Zigarren über jede Kritik erhaben. Meiner Mutter unausstehlich in ihrer Unfehlbarkeitspose, präsidierte Frau Kammergerichtsrätin Siedeleben, und streifte ihr Blick meine Mutter, so las diese in ihm: So müssen wirklich Diners aufgezogen werden, meine kleine Landpomeranze!
Solche Makellosigkeit war wirklich kaum zu ertragen!
Bis sich am nächsten Tage die Kunde verbreitete … Zuerst schien sie völlig unglaubhaft, nahm dann festere Gestalt an, gewisse Tatsachen wurden als unumstößlich festgestellt … Soviel war gewiss: mitten im Monat saß Frau Kammergerichtsrat Siedeleben ohne alle Dienstboten da, vor einem ungeheuren Aufwasch, in einer nahezu verwüsteten Wohnung!
Und der Grund –?! Aber, meine Liebe, der Grund –?!! Seit wann laufen Dienstboten noch in der Nacht hinter einem Diner fort –?! In solcher Nacht will doch jedes ein bisschen schlafen!
Es hatte eine Schlägerei gegeben, eine veritable Schlägerei zwischen den Lohndienern und den Dienstboten des Siedelebenschen Hauses!
Aber warum?! Sagen Sie doch bloß warum?!! Man schlägt sich doch nicht, todmüde nach einem Diner!
Mit geheimnisvoller, düsterer Stimme: Die Trinkgelder sollen ja verschwunden sein!
Und mit einem tiefen Aufatmen: Ach dann! Das erklärt freilich vieles!
Nicht ganz umsonst aßen die Kammergerichtsräte festlich an der Tafel ihrer Kollegen. Mussten sich die Gastgeber Kosten machen, gingen auch die Gäste nicht frei aus. Schon während des Diners ruhte das Auge manchen Ehepaars nachdenklich auf den servierenden Gestalten, und beim Kaffee tauschten dann Mann und Frau geheimnisvolle Flüsterworte.
»Sieben!« sagte Vater.
»Fünf ist völlig genug«, meinte meine Mutter. »Man soll die Leute auch nicht verwöhnen.«
»Aber es sind zwei Lohndiener, und drei sind in der Küche«, wandte Vater ein. »Es mussten eigentlich sieben fünfzig sein.«
»Fünf sind genug«, beharrte Mutter. »Du gibst immer zu viel, Arthur.«
»Nun«, sagte mein Vater, »ich will sehen, was Präsident Cornils gibt. Schließlich sollen die Leute auch eine kleine Freude haben. Ihre Füße müssen nach all der Lauferei schrecklich weh tun.«
»Meine Füße tun auch oft weh«, sagte Mutter kurz. »Nicht mehr als fünf, Arthur!«
Fuhren die Gäste dann in ihre Kleider, so stand auf dem Flur, diskret abseits auf einem Tischchen, ein Teller oder besser noch, weil unauffälliger, ein zinnernes Schüsselchen. Und während die Frauen vor dem Spiegel ihre Spitzentücher über der lockengebrannten Frisur zurechtlegten, traten die Herren sachte vor diese Opferschale und ließen so leise wie möglich ihren Beitrag hineingleiten. Dabei lag über dem Ganzen ein Anschein von etwas nahezu Verbotenem: das Geld durfte nicht klappern, der Herr tat so, als sei er mit seinen Handschuhen oder mit einem Bilde an der Wand über der Opferschale beschäftigt. Denn Trinkgelder, noch dazu im Hause eines Kollegen, zu geben war nicht recht fein, wie auch Geldbesitzen zwar wünschenswert, aber davon zu reden als »shocking« galt.
Trotz all dieser Vorsicht war der Trinkgeldgeber sich völlig darüber klar, dass sein Tun diskret, aber genau beobachtet wurde, einmal von Kollegen, die sich über die Höhe ihres Beitrages nicht klar waren, zum andern aber von den in die Mäntel helfenden Lohndienern und den Dienstmädchen, die den Damen bei ihrer Toilette beistanden. Denn deren Ernte war es, die sich dort sammelte …
War aber der letzte Gast gegangen, fielen alle Bande frommer Scheu. Schamlos offen wurde von den Lohndienern unter dem achtsamen Geleit der Mädchen der Teller in die Küche getragen und unter oft recht heftigen Wechselreden zur Teilung geschritten. Schon bei der Prozession wurden manchmal recht abfällige Reden laut, die »Popligkeit« und »Gnietschigkeit« mancher Gäste wurde heftig angeprangert: die Herrschaft tat gut, solchem zuchtlosen Treiben fernzubleiben.
Freilich gab es bestimmte Hausfrauen, unter ihnen die Rätin Siedeleben, die es grade für ihre Pflicht erachteten, bei diesen Teilungen anwesend zu sein, damit es gerecht zugehe. (Und damit sie für ihre Freundinnen wertvolles Material sammelte. Y hatte nur zwei Mark hingelegt, aber nach Aussage des Lohndieners hatte er sich doch wahrhaftig die eigene Tasche mit der schönen Havanna des Hausherrn gefüllt. »Nicht, dass ich es behauptete, Liebe, denn ich habe es nicht gesehen. Aber der Lohndiener sagt es, und er hat es gesehen! – Und was meinen Sie dazu, Liebe, der Schulte hat zehn Mark auf den Teller gelegt, mehr als Präsident Cornils – und wie unterernährt sehen die Kinder von Schultes aus! Sie sagt immer, sie müssen sparen. Aber wenn sie so was Sparen nennen, ich nenne es Protz!«)
Aber in dieser schrecklichen Nacht hatte Frau Kammergerichtsrat Siedeleben keine Gelegenheit, die Teilung zu überwachen: sofort nach dem Fortgang des letzten Gastes, des Kammergerichtsrates Elbe mit Frau, wurde entdeckt, dass der Teller mit den Trinkgeldern seines Inhalts beraubt worden war. Ratzekahl stand er da im