ihm bang. Er war ja gar nicht imstande, ohne Beruf zu leben. Er mußte arbeiten, Menschen gesund machen, das Dasein eines edeln, tätigen Mannes führen – und am Ende war ihm dies Los doch noch an dieses wundersamen, reinen Wesens Seite bestimmt, das ihn für sein Zögern vielleicht nur ein wenig strafen, ihn vielleicht noch einmal prüfen wollte. Und so erklärte er, daß er bisher keinerlei bindende Abmachungen getroffen, daß er noch einen Brief aus Lanzarote zu erwarten habe mit der Annahme von neuen vorteilhaften Bedingungen, die er der dortigen Verwaltung gestellt hätte, und, würden die ihm nicht gewährt, so sei er entschlossen, den kommenden Winter zu Studienzwecken an verschiedenen deutschen Universitäten 186 zu verbringen. O, er wäre auch in seiner Vaterstadt keineswegs müßig gewesen; nicht nur, daß er das Krankenhaus fleißig besucht, er habe sogar Privatpraxis ausgeübt. Ganz zufällig natürlich. Ein Kind war es gewesen, ein reizendes kleines Mädchen von sieben Jahren, das Töchterchen einer Witwe, die in seinem Hause wohnte. Er konnte sich dem nicht entziehen. Es war ein nicht unbedenklicher Fall gewesen … Scharlach. Aber das Kind war nun außer aller Gefahr. Sonst hätte er kaum abreisen können. Während er so redete, versuchte er das Bild der Frau Sommer in seiner Erinnerung hervorzurufen; aber immer erschien statt ihrer die Dame mit dem Puppengesicht aus dem illustrierten Familienblatt, die seine Träume auf der Schiffsreise erfüllt hatte. Offenbar bestand eine gewisse Ähnlichkeit; – ja gewiß, war sie ihm denn nicht gleich aufgefallen? Sabine hatte seinen letzten Mitteilungen anscheinend mit wachsendem Anteil, doch wie er vielleicht nur aus seinem bangen Gewissen heraus fürchtete, mit geringem Glauben zugehört, und beinahe unvermittelt begann sie von ihren beiden 187 Freundinnen zu erzählen, deren Gräsler sich wohl erinnern dürfte, und von denen die jüngere sich mit einem verspäteten Kurgast aus Berlin verlobt hätte. Zur Hochzeit wollte man dorthin reisen, und bei dieser Gelegenheit, wie die Mutter bemerkte, sich nach langer Zeit wieder einmal in den Großstadttrubel stürzen. Von neuem und ungeduldiger, beschwörend beinahe, richtete Gräslers Blick an Sabine die Frage: Wie ist’s nun eigentlich mit uns beiden? Aber ihre Augen blieben undurchdringlich; und wenn sie selbst auch im Laufe des Abends freundlicher, ja milder geworden schien, er fühlte, daß er das Spiel so gut wie verloren hatte. Doch wehrte sich sein Stolz dagegen, eine solche, gleichsam stumme Verabschiedung, wie sie ihm zugedacht schien, hinzunehmen, und er war entschlossen; Sabine vor seinem Fortgehen um eine Unterredung zu bitten. Als er sich erhob und mit erkünstelter Leichtigkeit auf die Möglichkeit eines weihnachtlichen Wiedersehens in Berlin anspielte, stand auch Sabine vom Tische auf, und ihre Absicht war unverkennbar, dem Gast das Geleite zu geben. Und so gingen sie denn Seite an Seite, 188 wie in jenen schöneren Zeiten, doch schweigend, unter den Tannen der Straße zu, wo der Wagen wartete. Plötzlich aber, fast unwillkürlich, hielt Gräsler inne und fragte: »Sind Sie mir böse, Sabine?« – »Böse?« erwiderte sie tonlos. »Warum sollt ich?« – »Mein Brief, ich weiß es ja, mein unglückseliger Brief.« Und da er sie, im Dunkel, nur schmerzlich mit einer abwehrenden Handbewegung zusammenzucken sah, versuchte er, hastig, im Gefühl sich immer unrettbarer zu verstricken, eine Erklärung. Sie habe seinen Brief mißverstanden, völlig mißverstanden. Seine Gewissenhaftigkeit, sein Pflichtgefühl habe ihn zu diesem Briefe veranlaßt. Oh, wenn er einfach seinem Herzen, seiner Leidenschaft gefolgt wäre! – Er hatte sie ja geliebt, angebetet, vom ersten Augenblick an, da er ihr am Krankenbett der Mutter gegenübergestanden. Aber er hätte ja nicht den Mut gehabt, an sein Glück zu glauben. Nach einem so lichtlosen, so einsamen, so friedlosen Dasein! Er hatte nicht mehr zu hoffen, nicht mehr zu träumen gewagt. Ein alter Mann wie er! Beinah ein alter Mann. Denn freilich, nicht die 189 Zahl der Jahre mache die Jugend aus, das fühle er wohl. Gerade in den endlosen Wochen der Trennung habe er es einsehen gelernt … Aber ihr Brief, dieser wunderbare, himmlische Brief – oh, solcher Worte war er nicht wert gewesen … So überstürzten und verwirrten sich seine Worte, und er wußte, daß er die rechten nicht fand, nicht finden konnte, weil zwischen seinen Lippen und ihrem Herzen der Weg verschüttet war. Und als er endlich, hoffnungslos, mit dem fast erstickten Ausruf endete. »Verzeihen Sie, Sabine, verzeihen Sie mir« – hörte er sie wie aus der Ferne erwidern: »Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Aber es wäre hübscher gewesen, wenn Sie nicht gesprochen hätten. Das hab’ ich gehofft. Sonst hätte ich Sie gebeten nicht zu kommen.« Ihre Stimme klang nun so hart, daß Gräsler mit einem Male neue Hoffnung faßte. War es nicht beleidigte Liebe, die sie so unversöhnlich machte? Beleidigte Liebe, – aber eben doch Liebe, die noch vorhanden war, deren sie sich nur schämte? Und er begann mit neuem Mut: »Sabine – ich will nichts von Ihnen erbitten, als dies eine – daß 190 ich im nächsten Frühjahr wiederkommen, Sie im nächsten Frühjahr noch einmal fragen darf.« – Sie unterbrach ihn. »Es ist recht kühl heraußen. Leben Sie wohl, Doktor Gräsler.« Und er glaubte trotz der Dunkelheit ein spöttisches Lächeln auf ihrem Antlitz zu sehen, als sie hinzufügte: »Ich wünsche Ihnen für weiterhin alles Gute!« – »Sabine!«
Er faßte ihre Hand, er versuchte sie zu halten. – Sie entzog sie ihm sanft. »Reisen Sie glücklich,« sagte sie, und in ihrer Stimme klang noch einmal alle Güte mit, die ihm nun für alle Zeit verloren war; sie wandte sich, und ohne ihren Schritt zu beschleunigen, aber unwiderrufbar ging sie nach dem Hause zurück, hinter dessen Türe sie verschwand.
Nur eine kurze Weile stand Gräsler starr, dann eilte er zum Wagen, stieg ein, hüllte sich in Mantel und Decke und fuhr durch die Nacht heimwärts. Trotz erwachte in seinem Herzen. Gut denn, sagte er bei sich, du willst es so, du treibst mich selbst in die Arme einer andern, du sollst deinen Willen haben. Mehr noch. Du 191 sollst es erfahren … Eh ich in den Süden reise, komme ich mit ihr hierher. Ich werde ein paar Tage mit ihr hier wohnen. Ich werde mit ihr spazierenfahren, am Forsthause vorbei. Du sollst sie sehen! Du sollst sie kennenlernen. Du sollst mit ihr sprechen. Hier erlaube ich mir, Ihnen meine Braut vorzustellen, Fräulein Sabine! Keine so reine Seele als Sie, mein Fräulein, aber dafür auch keine so kalte! Nicht so stolz, aber gütig. Nicht so keusch, aber süß! Katharina heißt sie – Katharina …
Er sprach den Namen laut vor sich hin. Und je weiter der Wagen sich vom Forsthaus entfernte, um so heißer stieg die Sehnsucht nach Katharina in ihm empor, und wurde bald zu dem wundersam sicheren Frohgefühl, daß er die Geliebte bald, – morgen – morgen abend schon wieder in seinen Armen halten konnte. Was sie für Augen machen würde, wenn sie ihn plötzlich abends um sieben Uhr in der Wilhelmstraße erblickte? Das sollte eine Überraschung sein. Und eine andere, größere stand ihr bevor. Denn ein Philister war er nicht. Er hatte nichts anderes als den Wunsch, 192 glücklich zu sein, und so wollte er das Glück nehmen, wo es so herzlich, so unbedenklich, so wahrhaft frauenhaft dargeboten wurde, wie von Katharina … Katharina … Wie gut war es doch, daß er Sabine noch einmal gesehen hatte. Nun erst wußte er, daß Katharina die Rechte für ihn war und keine andere.
Am nächsten Abend, eine Stunde nach seiner Ankunft, stand er an der Straßenecke, von der aus er Katharina sofort erblicken mußte, wenn sie den Handschuhladen verließ. Die beiden neben ihr in dem Geschäft angestellten Verkäuferinnen traten eine nach der andern aus der Tür und verschwanden, die Rolladen wurden geschlossen, der Geschäftsdiener entfernte sich, das Bogenlicht erlosch – und Katharina war nicht erschienen. Sonderbar. Höchst sonderbar. Ihr Urlaub war doch abgelaufen! Was also konnte sie vom Geschäfte ferngehalten haben? Eine plötzliche 193 Eifersucht flammte in Gräsler auf; kein Zweifel – sie war mit jemand anderm zusammen. Mit einem alten Bekannten vermutlich, für den man wieder Zeit hatte, jetzt, da der alte Doktor aus Portugal mit den indischen Schleiern und Bernsteinketten abgereist war. Vielleicht war’s auch eine ganz neue Bekanntschaft. Warum nicht? So was macht sich ja sehr geschwind bei unsereinem, Fräulein Katharina, nicht wahr? Wo mögen Sie denn nur stecken? Im Theater wahrscheinlich! Das ist ja wohl die feststehende Reihenfolge? Am ersten Abend Theater und gemeinsames Abendessen, am zweiten – alles übrige! Das hatte sie wohl schon etliche Male mitgemacht. Aber daß die Geschichte gleich am nächsten Tage von neuem anfing, das ging denn doch über den Spaß! Die Elende, um deretwillen er ein Wesen wie Sabine verloren hatte. Davonspaziert mit Schals und Hüten und Kleidern und Schmuck und macht sich am Ende noch lustig mit irgendeinem jungen Kerl