Butler Parker 107 – Kriminalroman. Günter Dönges
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Dan Mulligan war keineswegs betrunken, als er die Kneipe verließ, um das »St. Cyrus« anzusteuern. So ein nächtlicher Besuch war eine Kleinigkeit und konnte unmöglich gefährlich sein. Noch mal würde ihn seine Widersacherin nicht überrumpeln. Er war gewarnt.
Der Ferienort hier an der schottischen Küste war nicht sehr groß. Mulligan verzichtete auf ein Taxi und legte den Weg zum Hotel zu Fuß zurück. Er kam an dem großen Materiallager der Bohrfirma vorbei, für die er draußen auf der künstlichen Stahlinsel als Vorarbeiter arbeitete. Die Baracken mit den Unterkünften für die Schichtarbeiter und die Schuppen für den Nachschub waren von hohen Drahtzäunen umgeben, in die man noch zusätzlich Stacheldraht eingeflochten hatte. Grelle Bogenlampen leuchteten jeden Zentimeter des Lagers aus. Wachmänner mit auf den Mann dressierten Schäferhunden patrouillierten in unregelmäßigen Abständen. Die Battersea Oil Company war sehr vorsichtig geworden, nachdem es draußen in der Nordsee den ersten Ärger gegeben hatte.
Das »St. Cyrus« war ein altehrwürdiger Bau. Auf dem Erdgeschoß aus Backstein erhob sich das Obergeschoß aus Fachwerk. Ein gepflegter Park sorgte dafür, daß Mulligan sich an die Rückseite des Hotels heranpirschen konnte. Wie gesagt, er hatte sich mit Lady Simpson bereits beschäftigt und wußte, welche Räume sie und ihr Butler bewohnten. Um an den Balkon heranzukommen, der zur Zimmerflucht seiner Gegnerin gehörte, brauchte er nur auf das niedrige Dach einer ans Hausgrenzenden Remise zu steigen, alles Weitere war dann nur noch ein harmloser Spaziergang.
Dan Mulligan hatte leider keine Ahnung, daß er verfolgt und beobachtet wurde. Ein potentieller Mörder war hinter ihm her und ließ ihn nicht aus den Augen. Mulligan hatte nämlich leichtsinnigerweise von seiner Panne in der Loge der Music hall berichtet und war daraufhin sofort zum Sicherheitsrisiko erklärt worden. Die Leute, für die er arbeitete, wollten ihn jetzt so schnell wie möglich ausbooten. Sie trauten Mulligan nicht zu, daß er dichthielt, wenn man ihn nur gehörig in die Verhörzange nahm.
Dan Mulligan erkletterte das flache Dach der Remise, richtete sich halb auf und wurde augenblicklich zum Ziel für den Mann, der hinter ihm her war. Seine Gestalt hob sich wie ein Scherenschnitt gegen den zwar nächtlichen, aber immer noch etwas hellen Himmel ab. Der Mörder brauchte nur abzudrücken.
*
Kathy Porter hatte das »St. Cyrus« verlassen und wollte zurück zur Music hall. Sie bewohnte in einem Anbau ein kleines Zimmer, womit sie mehr als einverstanden war. So blieb sie in unmittelbarer Nähe jenes Platzes, den sie beobachten sollte.
Als Nummerngirl war Kathy Porter wirklich nicht zu erkennen. Von einem gewissen Josuah Parker angeleitet, hatte sie sich im Lauf der Zeit zu einer Meisterin der Maske entwickelt. Mit den sparsamsten Mitteln konnte sie sich rein äußerlich verwandeln und in eine fremde Haut schlüpfen.
Zur Zeit kopierte sie eine Putzfrau, die sie im Hotel gesehen hatte.
Kathy trug einen wadenlangen, alten Mantel, unter den sie sich ein flaches Kissen gebunden hatte. Sie humpelte ein wenig und glich dieser Putzfrau aufs Haar.
Sie hatte den Garten des Hotels noch nicht ganz verlassen, als sie ein ihr sehr bekanntes »Plopp« hörte. Natürlich wußte sie sofort, was dieses Geräusch zu bedeuten hatte. Irgendwo im dunklen Park war ein schallgedämpfter Schuß abgefeuert worden.
Kathy Porter verschwand sofort hinter einem Strauch, duckte sich und beobachtete die nahe Straße. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie den Mann sah, der ihrer Ansicht nach geschossen haben mußte.
Es handelte sich um einen etwa fünfundfünfzigjährigen Mann mit leichtem Bauchansatz, der harmlos aussah. Er trug einen Regenmantel und eine flache Mütze. Er spannte gerade einen Regenschirm auf, da es zu regnen begann. Der Unbekannte sah aus wie ein behäbiger Rentner.
Kathy Porter wartete, bis er ihr Versteck passiert hatte. Dann erst, als er in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen war, wechselte sie zur Straße hinüber und nahm die Verfolgung auf. Sie hütete sich, unsichtbar oder ungehört bleiben zu wollen und ging davon aus, daß dieser Mann ein erstklassiger Profi sei, den man nicht so leicht täuschen konnte. Er sollte sie sogar hören und sie in Augenschein nehmen. Kathy vertraute der Kunst ihrer Maske.
Er war plötzlich nicht mehr zu sehen und nicht mehr zu hören. Irgendwo mußte er in der Dunkelheit lauern. Vielleicht war er mißtrauisch geworden. Kathy ging gelassen weiter, humpelte leicht und stellte sich den Kragen hoch. Dann stand er plötzlich vor ihr, bieder und unscheinbar wirkend.
Kathy reagierte, wie sie gemäß ihrer Rolle reagieren mußte. Sie spielte eine Putzfrau, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte und die das Leben kannte.
»Mann«, fauchte sie ihn an, »haben Sie mich erschreckt. Konnten Sie nicht wenigstens husten?«
Er musterte sie prüfend und zündete sich genau in diesem Moment eine Zigarre an. Er ließ die Flamme seines Benzinfeuerzeugs lange brennen, um ihr Gesicht ausgiebig zu studieren. Kathy brauchte nichts zu befürchten. Sie sah ein wenig gedunsen aus, was mit kleinen Einlagen aus Watte zu tun hatte, die sie seitlich in der Mundhöhle trug. Zudem thronte auf ihrer Nase eine häßlich aussehende Nickelbrille.
»Hauen Sie ab, Mann«, redete Kathy barsch, weiter. »Sie müßten längst rausgefunden haben, daß es sich bei mir kaum noch lohnt.«
Dann, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, humpelte sie einfach davon und hatte ein scheußliches Gefühl in der Magengegend. Jeden Moment konnte es »ploppen« und ein schallgedämpfter Schuß abgefeuert werden.
Sie hatte sich nämlich ihrerseits, das Gesicht des Behäbigen angesehen. Beherrschend darin waren die kalten, wachsamen Augen gewesen, Augen, wie sie nur einer aus der Killer-Branche hatte. Sie mußte sich zusammenreißen, als sie hinter sich das metallische Knacken eines Verschlusses hörte.
Der angebliche Rentner wollte sie testen und servierte ihr ein Geräusch, auf das sie unbedingt reagierte, falls sie keine Putzfrau, sondern ebenfalls Profi war. Kathy schaffte es, sich nichts anmerken zu lassen, doch es kostete sie große Anstrengung und Selbstbeherrschung. Am liebsten hätte sie sich blitzschnell zur Seite weggerollt. Doch darauf hatte der angebliche Rentner sicher nur gewartet, um sie dann zu erwischen.
Nun hatte er sich verraten.
Kathy Porter ging humpelnd weiter, als habe sie überhaupt nichts gehört, und blieb die dickliche Putzfrau mit der billigen Nickelbrille auf der Nase.
*
Der Mörder aus dem Hinterhalt hatte Dan Mulligan tödlich getroffen. Josuah Parker hatte sich ohne Verzicht auf Würde, aber auch nicht zu langsam auf das Dach der Remise begeben und kniete neben dem Sterbenden.
»Ich werde Ihren Mörder finden und zur Rechenschaft ziehen«, sagte er ruhig, aber auch eindringlich zu Dan Mulligan, der schnell und flach atmete. »Vielleicht können Sie mir mit einigen wertvollen Hinweisen dienen, Mr. Mulligan?«
»Diese Schweine«, keuchte Mulligan und wollte sich aufrichten.
»Bleiben Sie entspannt liegen«, bat der Butler, »denken Sie an die Hinweise, ohne die ich Ihren Mörder nicht finden werde.«
»Ralph Barvas«, kam die schon sehr schwache Antwort, »Ralph Barvas, der Killer.«
»Wo finde ich den Mann, Mr. Mulligan?«