Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 21
»Ah, so weit«, meinte Gabriel ziemlich geistesabwesend, »da kann ich mir wohl denken, daß Sie für gesellige Zusammenkünfte keine Zeit und Lust haben.«
Ter Haigasun sah vor sich hin, als sei er nicht richtig verstanden worden:
»Nein, nein! – Ich weiß die Ehre zu schätzen und werde zu Ihnen kommen, Effendi, wenn für mich eine Erleichterung eintritt ...«
Er unterbrach sich, wie um das Wort »Erleichterung« nicht näher erklären zu müssen:
»Es ist sehr begrüßenswert, daß Sie unsere Leute um sich versammeln. Die entbehren hier viel.«
Gabriel versuchte die Augen des Priesters festzuhalten:
»Glauben Sie nicht, Ter Haigasun, daß für gesellige Zusammenkünfte jetzt nicht die richtige Zeit ist?«
Ein kurzer, aufmerksamer Blick des Priesters: »Im Gegenteil, Effendi! Es ist jetzt die richtige Zeit dafür, daß unsere Leute zusammenkommen.«
Auf diese seltsam vieldeutigen Worte sagte Gabriel Bagradian zunächst nichts. Es verging eine ganze Weile, ehe er hinwarf:
»Man staunt wirklich, daß hier das Leben so ruhig weitergeht und sich niemand Sorgen zu machen scheint.«
Der Priester hielt seine Augen wiederum niedergeschlagen, als sei er bereit, jede Mißbilligung geduldig entgegenzunehmen.
»Ich war vor einigen Tagen in Antiochia«, bekannte Gabriel sehr langsam, »und habe dort mancherlei in Erfahrung gebracht.«
Die fröstelnden Hände Ter Haigasuns verließen die Ärmel der Kutte. Er legte die Fingerspitzen aufeinander:
»Die Menschen unserer Dörfer kommen nur selten nach Antiochia, und das ist gut. Sie leben in ihren eigenen Grenzen und wissen wenig von den Dingen da draußen.«
»Wie lange werden sie noch in ihren Grenzen leben können, Ter Haigasun ...? Was geschieht zum Beispiel, wenn alle unsere Führer und Vornehmen in Stambul verhaftet werden?«
»Sie sind bereits verhaftet worden«, entgegnete der Priester sehr leise. »Seit drei Tagen schon sitzen sie in den Gefängnissen von Stambul. Und es sind sehr, sehr viele.«
Die Entscheidung war für Gabriel gefallen, der Weg nach Konstantinopel verrammelt. Doch in diesem Augenblick machte die große Tatsache weniger Eindruck auf ihn als Ter Haigasuns Ruhe. Er zweifelte an der Zuverlässigkeit der Nachricht nicht. Die Priesterschaft war trotz der liberalen Daschnakzagans noch immer die größte Macht und die einzige wirkliche Organisation im Volke. Die weltlichen Gemeinden lebten in weitverstreuten Ortschaften und erfuhren vom Stromlauf der Welt meist erst dann, wenn er sie in seine Strudel gerissen hatte. Der Priester aber wurde als erster auf schnellen und geheimen Wegen von jedem gefährlichen Faktum in Kenntnis gesetzt, noch lange bevor es die Zeitungen der Hauptstadt bringen durften. Gabriel wollte sich noch einmal überzeugen, ob er richtig verstanden habe:
»Wirklich verhaftet? Und wer? Ist das ganz sicher?«
Ter Haigasun legte seine leblose Hand mit dem großen Ring auf die Schriftstücke:
»Es ist ganz und gar sicher.«
»Und da sind Sie als Hauptpriester von sieben großen Gemeinden so ruhig?«
»Mir würde die Unruhe nichts nützen und meinen Gemeinden nur schaden.«
»Sind auch Priester unter den Verhafteten?«
Ter Haigasun durchschaute wohl den Argwohn in dieser Frage. Er neigte ernst den Kopf:
»Sieben Priester bisher. Darunter der Erzbischof Hemajak und drei hochgestellte Prälaten.«
Trotz der niederschmetternden Kunde konnte Bagradian sein Tabakbedürfnis nicht länger beherrschen. Er empfing Zigarette und Feuer:
»Ich hätte früher zu Ihnen kommen sollen, Ter Haigasun. Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich abgequält habe, um zu schweigen.«
»Sie haben sehr wohlgetan, zu schweigen. Und wir müssen weiter schweigen.«
»Wäre es nicht vorteilhafter, die Menschen hier auf die Zukunft vorzubereiten?«
Das wie aus Wachs geschnittene Gesicht Ter Haigasuns zeigte keine Regung:
»Ich kenne die Zukunft nicht. Doch ich kenne die Gefahren von Angst und Panik in einem Gemeinwesen.«
Der christliche Priester hatte damit fast die gleichen Worte wie der fromme Moslem Rifaat gesprochen. In Gabriels Geist aber ging ein blitzschneller Wachtraum vor sich. Ein riesiger Hund! Eine jener herrenlosen Bestien, welche die ganze Türkei unsicher machen. Auf dem Weg ein alter Mann, der aus Furcht vor dem Hund stehnbleibt, am Orte tanzt und sich mit einer jähen Bewegung zur Flucht wendet. Doch schon hat sich das reißende Tier in seinen Rücken verbissen ... Gabriel legte die Hand auf die Stirn:
»Die Angst«, sagte er, »ist das sicherste Mittel, den Feind zum Mord aufzureizen ... Aber ist es nicht sündhaft und sogar noch gefährlicher, dem Volke die Klarheit über sein Schicksal vorzuenthalten? Wie lange kann sich dieses Schicksal verheimlichen lassen?«
Ter Haigasun schien in die Ferne zu horchen:
»Noch dürfen die Zeitungen über all diese Dinge nicht schreiben, damit das Ausland nichts erfahre. Im Frühjahr ist auch die Arbeit groß und unsere Leute haben keine Zeit und kommen wenig herum. So kann uns mit Gottes Hilfe die Angst noch eine Weile erspart bleiben. Einmal aber wird es kommen. Früher oder später.«
»Was wird kommen? Wie sehen Sie es?«
»Ich sehe nichts.«
»Unsere Soldaten entwaffnet, unsere Führer eingesperrt!«
Ter Haigasun setzte die Aufzählung fort, immer noch mit Gleichmut, als bereite es ihm eine stille Befriedigung, sich selbst und seinem Besucher weh zu tun:
»Unter den Festgenommenen ist auch Wartkes, der Herzensfreund von Talaat und Enver. Einen Teil hat man verschickt. Vielleicht sind sie schon tot. Alle armenischen Zeitungen wurden eingestellt, alle Geschäftshäuser und Läden geschlossen. Und während wir hier miteinander sprechen, hängen auf dem Platz vor dem Seraskeriat fünfzehn unschuldige armenische Männer an fünfzehn Galgen.«
Gabriel Bagradian fuhr so heftig auf, daß der Rohrsessel umfiel:
»Was bedeutet dieser Wahnsinn? Wer kann das verstehen?«
»Ich verstehe nur, daß die Regierung gegen unser Volk einen Schlag plant, wie ihn selbst Abdul Hamid nicht gewagt hat.«
Gabriel fauchte Ter Haigasun so erbost an, als hätte er einen Feind, ein Mitglied von Ittihad vor sich:
»Und sind wir denn wirklich ganz machtlos? Müssen wir wirklich den Kopf schweigend hinhalten?!«
»Machtlos sind wir. Den Kopf müssen wir hinhalten. Schreien dürfen wir vielleicht.«
Der verfluchte Orient mit seinem Kismet, seiner Passivität, durchzuckte es Bagradian. Zugleich erfüllte ein Tumult von