Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
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Dortchen hatte das Buch inzwischen auch in die Hand genommen und darin geblättert. »Wissen Sie, Herr Lee«, sagte sie und sah ihn freundlich an, »daß es mir sehr wohl gefällt, wie Sie ein so richtiges ernstes und ehrbares Gefühl haben auch für den Gott, den andere glauben? Dies ist sehr hübsch von Ihnen! Aber Himmel! welch ein schöner Vers ist dies hier:
Blüh auf, gefrorner Christ! Der Mai ist vor der Tür:
Du bleibest ewig tot, blühst du nicht jetzt und hier.«
Sie sprang ans Klavier und spielte und sang aus dem Stegreif diese sehnsüchtig lockenden Worte, in geistlich choralartigen Maßen und Tonfällen, doch mit einem wie verliebt zitternden, durchaus weltlichen Ausdruck ihrer schönen Stimme.
Dreizehntes Kapitel
Blüh auf, gefrorner Christ! Der Mai ist vor der Tür
Du bleibest ewig tot, blühst du nicht jetzt und hier!
So klang es die ganze Nacht in Heinrichs Ohren, der kein Auge schloß. Ein lauer Südwind wehte über das Land, der Schnee schmolz an seinem Hauche und tropfte unablässig von allen Bäumen im Garten und von den Dächern, so daß das melodische Fallen der unzähligen Tropfen eine Frühlingsmusik machte zu dem, was in dem Wachenden vorging. Noch gestern hatte er geglaubt, mit seiner jetzigen verschwiegenen Verliebtheit hoch über allem zu stehen, was er je über Liebe gedacht und empfunden, und nun mußte er erfahren, daß er gestern noch keine Ahnung hatte von der Veränderung, die in dieser Nacht mit ihm vorging, und diese kurze Frühlingsnacht enthielt gleich einem kräftigen Prolog schon alles, was er während vieler Wochen nun erleben und erleiden sollte. Das Gattungsmäßige im Menschen erwachte in ihm mit aller Gewalt und Pracht seines Wesens, das Gefühl der Schönheit und Vergänglichkeit des Lebens warf darein eine beklemmende Angst, daß die, welche alles dies anrichtete und welche ihm so ganz notwendig schien, um ferner zu leben, ihm ja gewiß nicht werden würde. Denn er ehrte sie, indem er jetzt eine ganze Leidenschaft zu empfinden begann, sogleich so, daß er es nun entschieden und entschlossen verschmähte, sie in seinen Gedanken mit seiner Person zu behelligen, indem er, der Welt gegenüber sich keck und eroberungslustig fühlend, vor Dortchen eine gänzliche Demut und Furcht empfand. Doch wechselte die Furcht wohl zwanzigmal mit der Hoffnung, wenn er manche freundliche Blicke, angenehme Worte und zuletzt die Stimme bedachte, mit welcher sie obigen Frühlingsvers gesungen; doch endete auch dieser Wechsel mit gänzlicher Hoffnungslosigkeit, da er schon in dem Stadium war, wo man einer Schönen, die man liebt, auch die leeren böswilligen Freundlichkeiten und Koketterien verzeiht und sogar mit Dank hinnimmt, ohne eine Hoffnung darauf zu bauen. Dieses war nicht eine sentimentale Schwäche und Mädchenhaftigkeit, sondern es rührte gerade von der Kraft und Tiefe der entfachten Leidenschaft her und von dem ehrlichen Ernste, mit welchem er sie empfand. Denn wo es sich um alles handelt, um ein großes Glück oder Unglück, wird ein wohleingerichteter Mann mitten in der Leidenschaft dennoch Rücksicht für zehn nehmen, und gerade weil es ihm bitterer Ernst ist, glücklich zu sein und glücklich zu machen, so setzt er sein Heil auf die Karte der Hoffnungslosigkeit, weil Liebe, wenn sie durch Hoffnungslosigkeit ihr Spiel verliert, nichts verloren hat als sich selbst.
Am Morgen war er stiller als gewöhnlich und ließ sich nichts ansehen; doch war es nun mit seiner Ruhe vorbei, und mit der Arbeit jeglicher Art ebenfalls, denn sowie er etwas in die Hand nehmen wollte, verirrten sich seine Augen ins Weite, und alle seine Gedanken flohen dem Bilde der Geliebten nach, welches, ohne einen einzigen Augenblick zu verschwinden, überall um ihn her schwebte, während dasselbe Bild zu gleicher Zeit wie aus Eisen gegossen schwer in seinem Herzen lag, schön, aber unerbittlich schwer. Von diesem Drucke war er nur frei, und zwar gänzlich, wenn Dortchen zugegen war; alsdann war es ihm wohl, und er verlangte nichts weiter und sprach auch wenig mit ihr. Damit war ihr jedoch, als einem Weibe, nicht gedient. Sie fing an, allerlei kleine Teufeleien zu verüben, an sich ganz unschuldige Kindereien in Bewegungen oder Worten, welche einem vermehrten guten Humor zu entspringen schienen, aber ebensowohl täglich heller eine urgründliche Anmut und Beweglichkeit des Gemütes verrieten als auch mit einer federleichten Wendung zeigten, daß sie tausend unergründliche Nücken unter den Locken sitzen hatte. Wenn nun erst die offene und klare Herzensgüte, das, was man so die Holdseligkeit am Weibe nennt, einen Mann gewinnt und gänzlich in Beschlag nimmt, so bringen ihn nachher, wenn er in seiner Einfalt entdeckt, daß die Geliebte nicht nur schön, gut und huldvoll, sondern auch gescheit und nicht auf den Kopf gefallen sei, diese fröhliche Bosheit des Herzens, diese kindliche Tücke vollends um den Verstand und um alle Seelenruhe, da es nun total entschieden scheint, ohne diese sei das Leben fürhin leer und tot. So ging auch Heinrich abermals ein neues Licht auf, und es befiel ihn ein heftiger Schrecken, nun ganz gewiß nie wieder ruhig zu werden, da er gerade dies kurzweilige Frauenleben nicht sein nennen könne. Denn wenn die Liebe nicht nur schön und tief, sondern auch recht eigentlich kurzweilig ist, so erneut sie sich selbst durch tausend kleine Züge und Lustbarkeiten in jedem Augenblick das bißchen Leben hindurch und verdoppelt den Wert desselben, und nichts macht trauriger, als ein solches Leben möglich zu sehen, ohne es zu gewinnen, ja die allertraurigsten Leute sind die, welche das Zeug dazu haben, recht lustig zu sein, und dennoch traurig sein müssen aus Mangel an guter Gesellschaft.
Wie nun Heinrich an diesen Spielereien und Neckereien aller Art sich sonnte, die oft in nichts anderm bestanden, als daß Dortchen eine Münze oder Glas zum Tanzen brachte und gegen ihn hin dirigierte, worauf er dem Gegenstand einen Nasenstüber gab, daß er wieder zurückflog, mußte er sich tausendmal in acht nehmen, sie nicht drum anzusehen, wenn das Geldstück umgepurzelt war, und über dem kindisch leichten Tun sein schweres Geheimnis zu verraten. Desnahen hielt er sich gewaltsam zurück; aber das tat ihm so weh, daß er aus Verzweiflung unartig und launisch wurde und sich die schönsten Stunden unwiederbringlich verdarb.
Nun glaubte er sich zu heilen, wenn er sich Dortchens Gegenwart entzöge, und fing an, das es erklärter Frühling war, frühmorgens wegzugehen, sich den ganzen Tag im Lande