Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
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Die erste männliche Kleidung, welche ich erhielt, war grün, da meine Mutter aus der Schützenkleidung des Vaters eine Zwillingstracht für mich schneiden ließ, für den Sonntag einen Anzug und für die Werktage einen. Auch fast alle nachgelassenen bürgerlichen Gewänder waren von grüner Farbe; bis zu meinem zwölften Jahre aber reichte der Nachlaß zur Herstellung von grünen lacken und Röcklein aus bei der großen Strenge und Aufmerksamkeit der Mutter für Schonung und Reinhaltung der Kleider, so daß ich von der unveränderlichen Farbe schon früh den Namen »grüner Heinrich« erhielt und in unserm Städtchen bis auf den heutigen Tag trug. Als solcher machte ich in der Schule und auf der Gasse bald eine bekannte Figur und benutzte meine grüne Popularität zur steten Fortsetzung meiner Beobachtungen und chorartiger Teilnahme an allem, was geschah und gehandelt wurde. Die tatkräftigen und stimmführenden Größen der Bubenwelt ließen meine Nähe immer gelten, nahmen mich in Schutz und entdeckten öfter mit wohlwollender Herablassung, daß ich zu mehrerem zu gebrauchen sei, als es den Anschein hatte; einzelne schlossen sich an mich an und blieben mir dann längere Zeit getreu in allerlei Bestrebungen. Ich drang mit den verschiedensten Kindern, je nach Bedürfnis und Laune, in die elterlichen Häuser und war als ein vermeintlich stilles gutes Kind gern gesehen, während ich mir genau den Haushalt und die Gebräuche der armen Leute ansah und dann wieder wegblieb, um mich in mein Hauptquartier bei der Frau Margret zurückzuziehen, wo es am Ende immer am meisten zu sehen gab. Sie freute sich, daß ich bald imstande war, nicht nur das Deutsche geläufig vorlesen, sondern auch die in ihren alten Büchern häufigen lateinischen Lettern erklären zu können sowie die arabischen Zahlen, die sie nie verstehen lernte. Ich verfertigte ihr auch allerlei Notizen in Frakturschrift auf Papierzettel, welche sie aufbewahren und bequem lesen konnte, und ward auf diese Weise ihr kleiner Geheimschreiber. Schon sah sie, die mich für ein großes Genie hielt, einen ihrer zukünftigen, klugen Glückmacher in mir und war im voraus meiner glänzenden Laufbahn froh. Wirklich machte mir das Lernen weder Mühe noch Kummer, und ich war, ohne zu wissen wie, zu der Würde herangediehen, die kleineren Genossen unterrichten zu dürfen. Dieses geriet mir zu einer neuen Lust, vorzüglich weil ich, ausgerüstet mit der Macht zu lohnen und zu strafen, kleine Schicksale kombinieren, Lächeln und Tränen, Freund- und Feindschaft hervorzaubern konnte. Sogar die Frauenliebe spielte ihre ersten schwachen Morgenwölkchen dazwischen. Wenn ich in einem Halbkreise von neun bis zehn kleinen Mädchen saß, so war der erste ehrenvollste Platz bald zunächst meiner Seite, bald war es der letzte, je nach der Gegend in dem großen Saale. So geschah es, daß ich die Mädchen, welche ich gern sah, entweder fortwährend oben hielt in der Region des Ruhmes und der Tugend oder aber sie stets niederdrückte in die dunkle Sphäre der Sünde und der Vergessenheit, in beiden Fällen immer zunächst meinem tyrannischen Herzen. Dieses aber ward selbst reichlich mitbewegt, wenn ich oft von der ohne Verdienst erhobenen Schönen kein Lächeln des Dankes erhielt, wenn sie die unverdiente Ehre hinnahm, als ob sie ihr gebührte, und es mir durch mutwillige rücksichtslose Streiche unendlich erschwerte, sie auf der glatten Höhe zu halten ohne auffallende Ungerechtigkeit. Wenn ich hingegen eine andere Geliebte, jede kleine Unaufmerksamkeit benutzend, nach und nach heruntergebracht hatte bis auf den letzten ruhmlosen Platz an meiner Seite, nicht achtend auf ihre kummervollen Tränen oder vielmehr angenehm durchschauert durch dieselben, so suchte ich das Leid dann durch verdoppelte Freundlichkeit aufzuhellen, bis mich die hartnäckige Trauer, welche nichts von meinen wahren Gefühlen ahnen wollte, langweilte und ich die spröde Unglückliche jählings wieder hinaufjagte in die heitere kühle Höhe, wo sie wieder fröhlich wurde, während ich eine kleine unverbesserliche Sünderin ohne Mühe an den ihr gebührenden Schandenplatz herniederdonnerte, wo dieselbe gar wohl gedieh, meinem Zorne lächelte und sich im geheimen alle möglichen Neckereien gegen mich erlaubte, die ich halb murrend, halb verliebt erduldete.
Nur zwei Dinge waren mir in dieser Schule quälend und unheimlich und sind eine unliebliche Erinnerung geblieben. Das eine war die düstere kriminalistische Weise, in welcher die Schuljustiz gehandhabt wurde. Es lag dies teils noch im Geiste der alten Zeit, an deren Grenze wir standen, teils in einer Privatliebhaberei der Personen und harmonierte übel mit dem übrigen guten Ton. Es wurden ausgesuchte peinliche und infamierende Strafen angewendet auf dies zarte Lebensalter, und es verging fast kein Monat ohne eine feierliche Exekution an irgendeinem armen Sünder. Zwar wurden meistens wirkliche frühzeitige Schlingel betroffen, war aber immerhin verkehrt, indem es die Kinder zu einem frühen geläufigen Verdammen und Pharisäertum hinführte; so schon ist es eine seltsame Erscheinung, daß die Kinder, selbst wenn sie das Bewußtsein des gleichen Fehlers in sich haben, aber verschont geblieben sind, ein bestraftes und bezeichnetes verachten, verfolgen und verhöhnen, bis die letzten Wirkungen verklungen oder die Verfolger selbst in das Netz gefallen sind. Solange das Goldene Zeitalter nicht gekommen, müssen kleine Buben geprügelt werden; ich fühle die doppelte Wohltat noch jetzt nach, wie mich ein tüchtiger Prügelschauer wie ein Gewitter von einer drückenden Schwüle befreite und einem frischen Wohlverhalten wieder Raum verschaffte, da ich zu Hause nie gezüchtigt wurde. Allein einen widerlichen Eindruck machte es, wenn ein böser Junge, nach gehaltener Standrede, in ein abgelegenes Zimmer geführt, dort ausgezogen, auf eine Bank gelegt und abgehauen wurde, oder als einmal ein ziemlich großes Mädchen mit einer umgehängten Tafel auf einem Schranke stehen mußte, einen ganzen Tag lang. Ich hatte großes Mitleid mit ihr, obgleich sie etwas Großes begangen haben mußte. Vielleicht war sie auch unschuldig verurteilt! Ein paar Jahre später ertränkte sich das gleiche Mädchen während des Konfirmationsunterrichtes, ich weiß nicht mehr weshalb, erinnere mich aber noch der trauernden Teilnahme, welche ich für die Tote hegte, als ich sie begraben