Der Ursprung des Christentums. Karl Kautsky

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Der Ursprung des Christentums - Karl Kautsky

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einen Leitfaden zu schaffen, au dessen Hand man sich im Labyrinth der Wirklichkeit zurechtfindet.

      Die Aufgabe der Kunst ist übrigens eine ähnliche. Auch sie hat nicht einfach eine Photographie der Wirklichkeit zu liefern, sondern der Künstler hat das wiederzugeben, was ihm an der Wirklichkeit, die er schildern will, als das Wesentliche, das Charakteristische erscheint. Der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft besteht darin, daß der Künstler das Wesentliche sinnlich erfaßbar darstellt und dadurch seine Wirkungen erzielt, indes der Denker das Wesentliche als Begriff, als Abstraktion zur Darstellung bringt.

      Je komplizierter eine Erscheinung und je geringer die Zahl der Erscheinungen, mit denen die eine zu vergleichen ist, desto schwieriger, das Wesentliche in ihr von dem Zufälligen zu sondern, desto mehr wird die subjektive Eigenart des Forschers und Darstellers dabei zur Geltung kommen. Desto unerläßlicher aber auch die Klarheit und Unbefangenheit seines Blicks.

      Nun gibt es wohl keine kompliziertere Erscheinung als die menschliche Gesellschaft, die Gesellschaft von Menschen, von denen jeder einzelne schon komplizierter ist als jedes andere Wesen, das wir kennen. und dabei ist die Zahl der miteinander vergleichbaren gesellschaftlichen Organismen der gleichen Entwicklungsstufe eine relativ äußerst geringe. Kein Wunder, daß die wissenschaftliche Erforschung der Gesellschaft später beginnt als die eines anderen Gebiets unserer Erfahrung, kein Wunder auch, daß gerade hier die Anschauungen der Forscher weiter auseinandergehen als anderswo. Diese Schwierigkeiten werden aber noch enorm vergrößert dann, wenn, wie das bei den Wissenschaften von der Gesellschaft so häufig der Fall ist, die verschiedenen Forscher in sehr verschiedener, oft gegensätzlicher Weise an dem Ergebnis ihrer Forschungen praktisch interessiert sind, wobei dies praktische Interesse kein persönliches zu sein braucht, ein sehr sachliches Klasseninteresse sein kann.

      Es ist offenbar ganz unmöglich, die Unbefangenheit gegenüber der Vergangenheit zu bewahren, wenn man an den gesellschaftlichen Gegensätzen und Kämpfen seiner Zeit in irgend einer Weise ein Interesse nimmt und gleichzeitig in diesen Erscheinungen der Gegenwart eine Wiederholung der Gegensätze und Kämpfe der Vergangenheit sieht. Letztere werden nun Präzedenzfälle, die die Rechtfertigung oder Verurteilung jener in sich schließen, von der Beurteilung der Vergangenheit hängt jetzt die der Gegenwart ab. Wer, dem seine Sache teuer ist, könnte da unbefangen bleiben? Je mehr er an ihr hängt, desto wichtiger werden ihm in der Vergangenheit jene Tatsachen erscheinen, und er wird sie als wesentliche hervorheben, die den eigenen Standpunkt zu stützen scheinen, indes er Tatsachen, die das Gegenteil zu bezeugen scheinen, als unwesentliche in den Hintergrund schieben wird. Der Forscher wird zum Moralisten oder Advokaten, der bestimmte Erscheinungen der Vergangenheit verherrlicht oder brandmarkt, weil er ähnlichen Erscheinungen der Gegenwart – Kirche, Monarchie, Demokratie usw. – entweder als Verteidiger oder als Feind gegenübersteht.

      Ganz anders dagegen, wenn man auf Grund ökonomisch Einsicht erkennt, daß nichts in der Geschichte sich wiederholt, daß die ökonomischen Verhältnisse der Vergangenheit unwiederbringlich dahin sind, daß die früheren Gegensätze und Kämpfe der Klassen wesentlich verschieden sind von den heutigen, daß daher auch die modernen Einrichtungen und Ideen bei aller äußerlichen Übereinstimmung mit denen der Vergangenheit doch einen ganz anderen Inhalt haben als diese. Man sieht nun ein, das; jede Zeit mit ihrem eigenen Maße zu messen ist, daß die Bestrebungen der Gegenwart durch die Verhältnisse der Gegenwart zu begründen sind, daß Erfolge oder Mißerfolge der Vergangenheit darüber an sich sehr wenig sagen, daß die einfache Berufung auf die Vergangenheit zur Rechtfertigung von Forderungen der Gegenwart direkt irreführend werden kann. Das haben Demokraten und Proletarier Frankreichs im letzten Jahrhundert oft genug erfahren, wenn sie sich mehr auf die „Lehren“ der französischen Revolution als auf die Einsicht in die bestehenden Klassenverhältnisse stützten.

      Wer auf dem Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung steht, der vermag die Vergangenheit mit vollster Unbefangenheit anzusehen, auch wenn er an den praktischen Kämpfen der Gegenwart den lebhaftesten Anteil nimmt. Die Praxis kann seinen Blick für viele Erscheinungen der Vergangenheit nur noch schärfen, dicht mehr trüben.

      So bin auch ich an die Darstellung der Wurzeln des Urchristentums gegangen ohne die Absicht, es zu verhimmeln oder zu brandmarken, sondern nur mit dem Streben; es zu begreifen. Ich wußte, zu welchen Resultaten immer ich kommen mochte, die Sache, für die ich kämpfe, konnte darunter nicht leiden. Wie immer mir die Proletarier der Kaiserzeit erschienen, wenn es immer ihre Bestrebungen und deren Resultate sein mochten, sie waren jedenfalls völlig verschieden von dem modernen Proletariat, das in einer ganz anderen Situation und mit ganz anderen Hilfsmitteln kämpft und wirkt. Welche Großtaten und Erfolge, welche Erbärmlichkeiten und Niederlagen jene Proletarier aufweisen mochten, sie konnten nichts bezeugen für das Wesen und die Aussichten des modernen Proletariats, weder Günstiges noch Ungünstiges.

      Wenn dem aber so ist, hat dann die Beschäftigung mit der Geschichte noch irgend einen praktischen Zweck? Nach der gewöhnlichen Ansicht betrachtet man die Geschichte wie eine Seekarte für die Schiffer auf dem Meere des politischen Handelns; sie soll die Rife und Untiefen zeigen, an denen frühere Seefahrer gestrandet sind, und soll deren Nachfolger instand setzen, mit heiler Haut daran vorbeizukommen.

      Wenn aber das Fahrwasser der Geschichte sich ununterbrochen ändert, die untiefen sich immer wieder an anderen Stellen bilden, jeder Pilot von neuem erst selbst wieder durch stete Untersuchungen des Fahrwassers seinen Weg suchen muß, wenn das bloße Richten nach der alten Karte nur zu oft irre führt, wozu studiert man dann noch Geschichte, außer etwa am antiquarischer Liebhaberei?

      Wer das annähme, würde gar sehr das Kind mit dem Bade ausgießen.

      Wollen wir in dem eben gebrauchten Bilde bleiben, so ist die Geschichte als ständige Seekarte freilich für den Piloten eines politischen Fahrzeugs unbrauchbar. Aber das besagt nicht, daß sie nun überhaupt nutzlos für ihn wäre. Nur der Gebrauch ist ein anderer, den er von ihr zu machen hat. Er muß sie als Lot benutzen, als Mittel, das Fahrwasser, in dem er sich befindet, zu erkennen und sich darin zurecht zu finden. Der einzige Weg, eine Erscheinung zu begreifen, ist der, zu erfahren, wie sie sich gebildet hat. Ich kann die heutige Gesellschaft nicht begreifen, wenn ich nicht weiß, auf welche Weise sie entstanden ist, wie sich die einzelnen ihrer Erscheinungen, Kapitalismus, Feudalismus, Christentum, Judentum usw. entwickelt haben.

      Will ich mir klar werden über die gesellschaftliche Stellung, die Aufgaben und Aussichten der Klasse, der ich angehöre oder der ich mich angeschlossen habe, dann muß ich Klarheit erlangen über den bestehenden gesellschaftlichen Organismus, ich muß ihn allseitig begreifen, was unmöglich ist, wenn ich ihn nicht in seinem Werden verfolgt habe. Ohne Einsicht in den Entwicklungsgang der Gesellschaft ist es unmöglich, ein bewußter und weitblickender Klassenkämpfer zu sein, bleibt man abhängig von den Eindrücken der nächsten Umgebung und des Augeublicks, ist man nie sicher, sich dadurch in ein Fahrwasser treiben zu lassen, das anscheinend vorwärts führt, bald aber zwischen Klippen endet, durch die es kein Entkommen gibt. Sicher gab es manchen erfolgreichen Klassenkampf, ohne daß die daran Beteiligten ein klares Bewußtsein vom Wesen der Gesellschaft hatten, in der sie lebten.

      Aber in der heutigen Gesellschaft schwinden die Bedingungen eines derartigen erfolgreichen Kampfes, ebenso wie es in dieser Gesellschaft immer schwerer wird, sich etwa in der Wahl seiner Nahrungs- und Genußmittel bloß vom Instinkt und dem Herkommen leiten zu lassen. Die mochten in einfachen, natürlichen Verhältnissen genügen. Je künstlicher durch den Fortschritt der Technik und der Naturwissenschaften die Lebensbedingungen werden, je mehr sie sich von der Natur entfernen, um so notwendiger wird für den einzelnen die naturwissenschaftliche Erkenntnis, um in der Fülle der ihm gebotenen künstlichen Produkte die für seinen Organismus zweckmäßigsten herausfinden zu können. Solange die Menschen nur Wasser tranken, genügte der Instinkt, der sie gutes Quellwasser suchen und faules Sumpfwasser verschmähen heißt. Er versagt aber vollständig als Führer gegenüber den fabrizierten Getränken. Hier wird die wissenschaftliche Einsicht zur Notwendigkeit.

      Und

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