Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
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Die Sorge, deren Spuren Kalebs Gesichtszügen aufgedrückt war, sein zerstreutes und träumerisches Wesen, das einem Alchimisten oder einem Jünger der dunklen Wissenschaft sehr gut gestanden hätte, bildeten auf den ersten Blick einen merkwürdigen Kontrast zu seiner Beschäftigung und den Nichtigkeiten um ihn her. Aber so alltäglich die Dinge auch an sich sein mögen, wenn man sie erfindet und anfertigt, um sich sein tägliches Brot damit zu verdienen, dann werden sie etwas sehr Ernsthaftes; und ganz abgesehen von dieser Betrachtung, kann ich durchaus nicht sagen, ob Kaleb, wenn er Minister oder Parlamentsmitglied oder Advokat oder gar ein großer Spekulant gewesen, sich mit weniger launischen Spielereien beschäftigt hätte, während ich gar sehr bezweifle, ob sie ebenso harmlos gewesen wären.
»Du warst also gestern abend draußen im Regen, Vater, in deinem schönen neuen Überzieher?« fragte Kalebs Tochter.
»Mit meinem schönen neuen Überzieher«, antwortete Kaleb, indem er einen Blick nach der Wäscheleine warf, auf der das vorhin beschriebene Gewand von Packleinewand sorgfältig zum Trocknen aufgehängt war.
»Wie froh bin ich, Vater, daß du ihn dir gekauft hast!«
»Und obendrein von einem so tüchtigen Schneider«, sagte Kaleb. »Ein vollendeter Modenschneider. Er ist zu gut für mich.«
Das blinde Mädchen unterbrach ihre Arbeit und fing an fröhlich zu lachen.
»Zu gut, Vater! Könnte denn etwas zu gut für dich sein?«
»Aber ich schäme mich fast, ihn zu tragen«, sagte Kaleb, die Wirkung seiner Worte auf ihrem freudestrahlenden Gesicht beobachtend. »Auf mein Wort, wenn ich die Jungen und die Leute hinter mir sagen höre: ›Hallo, seht mal den Gecken an!‹, dann weiß ich nicht, wo ich meine Augen lassen soll. Und als gestern abend der Bettler gar nicht fortgehen wollte, und ich ihm sagte, ich sei ein ganz gewöhnlicher Mann, da antwortete er: ›Aber nein, Euer Gnaden! Das glaube ich Euer Gnaden nicht.‹ Mir war, als hätte ich kein Recht, ihn zu tragen.«
Glückliches blindes Mädchen! Wie fröhlich sie war in ihrem Entzücken.
»Ich sehe dich, Vater«, sagte sie, in die Hände klatschend, »so deutlich, als wenn ich die Augen hätte, die ich nie vermisse, wenn du bei mir bist. Ein blauer Rock …«
»Hellblau«, sagte Kaleb.
»Ja, ja, hellblau!« rief das Mädchen, ihr freudestrahlendes Gesicht emporrichtend: »ganz die Farbe, deren ich mich noch von dem lieben Himmel her erinnere! Du sagtest mir früher, er sei blau! Also ein hellblauer Rock …«
»Und halb anschließend«, setzte Kaleb hinzu.
»Halb anschließend!« rief das blinde Mädchen mit herzlichem Lachen; »und du in diesem Rock, lieber Vater, mit deinen fröhlichen Augen, deinem lächelnden Gesicht, deinem leichten Schritt und deinem dunklen Haar. – Du siehst so schön und jung aus!«
»Hallo, hallo!« sagte Kaleb. »Ich werde noch ganz eitel.«
»Ich glaube, du bist es schon!« rief das blinde Mädchen, ihm in ihrem Entzücken mit dem Finger drohend. »Ich kenne dich, Vater! Ha, ha, ha! Siehst du, da habe ich dich ertappt!«
Wie ganz verschieden war das Bild in ihrem Geiste von dem Kaleb, wie er dasaß und sie beobachtete! Sie hatte von seinem leichten Schritt gesprochen. Damit hatte sie recht. Seit vielen Jahren hatte er nicht ein einziges Mal die Schwelle dieser Tür mit dem ihm natürlichen langsamen, schwerfälligen Gange überschritten, sondern mit einem erkünstelten Schritt, der das Ohr seines Kindes täuschen sollte, und niemals hatte er, wenn sein Herz auch noch so schwer war, diesen leichten Gang vergessen, der ihr Herz so froh und mutig machte!
Nur Gott weiß es, aber ich glaube, Kalebs verwirrtes Wesen hatte zum Teil seinen Grund darin, daß er sich aus Liebe zu seiner blinden Tochter immer verstellt hatte. Wie hätte der kleine Mann nicht verwirrt sein sollen, nachdem er so viele Jahre daran gearbeitet hatte, seine eigene Identität und all die Gegenstände, die darauf Bezug hatten, zu zerstören!
»So weit wären wir«, sagte Kaleb, ein paar Schritte zurücktretend, um sich besser von der Vortrefflichkeit seiner Arbeit überzeugen zu können: »der Wirklichkeit so ähnlich, wie eine halbe Mark einem Fünfgroschenstück. Wie schade, daß die ganze Front des Hauses auf einmal aufgeht! Wenn nur eine Treppe und ordentliche Türen da wären, um in die Zimmer zu gelangen! Aber das ist das Schlimme an meinem Beruf; ich betrüge und beschwindle mich in einem fort selbst.«
»Du sprichst ja ganz leise, Vater. Bist du müde?«
»Müde!« wiederholte Kaleb mit einem kräftigen Ausdruck von Energie. »Was sollte mich denn müde machen, Bertha? Ich bin noch nie müde gewesen. Was willst du damit sagen?«
Um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, unterbrach er sich plötzlich, als er unwillkürlich zwei Kniestücke nachahmen wollte, die sich auf dem Kaminsims dehnten und gähnten, vollkommene Darstellungen ewiger Müdigkeit, und begann dann einen Vers eines Liedes zu summen. Es war ein Trinklied und handelte von etwas wie einem schäumenden Becher. Er sang es mit ganz verwegenem Schwung, der sein Gesicht noch tausendmal magerer und sorgenvoller als gewöhnlich erscheinen ließ.
»Wie, was, Ihr singt!« sagte Tackleton, seinen Kopf zur Tür hereinsteckend. »Nur zu! Ich kann nicht singen.«
In der Tat würde das niemand bei ihm vermutet haben. Sein Gesicht sah wirklich nicht nach Singen aus.
»Ich kann mir den Luxus des Singens nicht gönnen«, sagte Tackleton. »Es freut mich, daß Ihr es könnt. Will nur hoffen, daß Euch das nicht am Arbeiten hindert. Beides läßt sich schwer vereinigen, scheint mir.«
»Wenn du ihn nur sehen könntest, Bertha; wie er mir zunickt!« flüsterte Kaleb. »So ein Spaßmacher! Wenn du ihn nicht kenntest, so könntest du glauben, es sei ihm ernst, – nicht wahr?«
Das blinde Mädchen lächelte und nickte.
»Wenn der Vogel singen kann und nicht will, so muß man ihn zwingen, sagt das Sprichwort«, brummte Tackleton. »Wenn nun aber die Eule, die nicht singen kann und nicht singen soll, trotzdem singen will, – was muß man dann mit ihr machen?«
»O, und wie er mir jetzt wieder winkt!« flüsterte Kaleb seiner Tochter ins Ohr. »O du grundgütiger Himmel!«
»Immer fröhlich und gut gelaunt bei uns!« rief Bertha lachend.
»Ah, bist du auch da, wirklich!« versetzte Tackleton. »Arme Blödsinnige!«
Er glaubte in der Tat, sie sei schwachsinnig; und er gründete seinen Glauben – ich weiß nicht, ob bewußt oder unbewußt – darauf, daß sie ihn gern leiden mochte.
»Wohlan … da du einmal da bist … wie geht’s?« fragte Tackleton in seiner mürrischen Weise.
»O gut, ganz gut! Und so glücklich, wie Sie es mir nur wünschen können. So glücklich, wie Sie die ganze Welt machen möchten, wenn Sie es könnten!«
»Arme blödsinnige!« murmelte Tackleton. »Kein Funken Vernunft. Nicht ein Fünkchen!«
Das blinde Mädchen ergriff seine Hand und küßte sie – sie hielt sie einen Augenblick zwischen ihren Händen und legte zärtlich ihre Wange darauf, bevor sie sie wieder losließ. Es lag in dieser Handlung etwas