Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
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»Noch einen Augenblick, Grace. Verlaß mich noch nicht. Weißt du sicher, daß mir nichts mehr fehlt?«
Sie verstand Marions Anspielung nicht recht. Sie dachte an das Gesicht ihrer Schwester, und ihr Blick ruhte mit zärtlicher Innigkeit über ihr.
»Meine Kunst kann nicht weitergehen, teures Kind«, sagte Grace; »und auch nicht deine Schönheit. Ich habe dich nie so schön gesehen wie jetzt.«
»Ich fühlte mich nie so glücklich«, entgegnete diese.
»Ja, aber größeres Glück harrt noch auf dich. An einem andern solchen Herd, ebenso freundlich und anheimelnd wie dieser hier«, sagte Grace, »werden bald Alfred und seine junge Frau hausen.«
Sie lächelte wieder. »Du denkst dir ein glückliches Heim, Grace. Ich sehe es deinen Augen an. Ich weiß es, daß es glücklich sein wird, Liebe. Wie fröhlich bin ich, das zu wissen!«
»Nun«, sagte der Doktor, geschäftig eintretend. »Sind wir alle fertig, um Alfred zu empfangen? Er kann erst ziemlich spät eintreffen – etwa eine Stunde vor Mitternacht – so haben wir Zeit genug, um vor seiner Ankunft in Stimmung zu kommen. Er soll nicht erscheinen, bevor das Eis gebrochen ist. Schüre das Feuer, Britain! Laß es auf die Stechpalme leuchten, bis sie glüht. Es ist eine Welt der Narrheit, meine guten Kinder, Liebhaber, – alles andere – lauter Unfug. Jedoch wir wollen mit den andern Menschen töricht sein und unserm treuen Liebhaber einen ausgelassenen Willkommen geben. Wahrhaftig!« sagte der Doktor und blickte seine Töchter mit stolzer Freude an, »ich glaube heute abend beinahe neben anderer Narrheit, daß ich Vater von zwei hübschen Töchtern bin.«
»Und alles, was die eine je begangen hat und noch begehen kann, um dir Schmerz zu bereiten, lieber Vater«, sagte Marion, »das vergib ihr jetzt, wo ihr Herz voll ist. Sage, daß du ihr vergibst. Daß du ihr vergeben wirst. Daß du ihr immer deine Liebe erhalten wirst, und« – sie brach ab und barg ihr Gesicht an des alten Mannes Brust.
»Kind, Kind!« sagte der Doktor sanft. »Vergeben! Was soll ich denn vergeben? Wahrhaftig, wenn unsere treuen Liebhaber zurückkehren, um uns solche Szenen zu bereiten, dann müssen wir sie uns vom Leibe halten. Wir müssen ihnen Sendboten entgegensenden und sie nur eine Stunde für den Tag reisen lassen, bis wir gehörig vorbereitet sind, um sie zu empfangen. Küsse mich, mein Herzblatt. Vergeben! Was für ein einfältiges Kind du bist. Wenn du mich fünfzigmal des Tages geärgert hättest, statt gar nicht, so würde ich dir alles vergeben, nur nicht eine solche Bitte. Küsse mich, mein Herzblatt! Also: in Vergangenheit und Zukunft – reine Rechnung zwischen uns. Schürt das Feuer an! Sollen die Leute in der kalten Dezembernacht erfrieren? Laßt es licht und warm und heiter sein, oder ich vergebe gewissen Leuten gewiß nicht!«
So guter Dinge und vergnügt war der Doktor. Und das Feuer wurde angeschürt, die Lichter brannten hell; die Gäste kamen, ein frohes Durcheinander hob an, und schon herrschte ein angenehmer Ton festlicher Erregung im ganzen Hause. Immer mehr Gäste kamen an. Helle Augen grüßten Marion. Lächelnde Lippen wünschten ihr Glück. Erfahrene Mütter spielten mit dem Fächer und hofften, sie möge nicht zu jung und leichten Sinnes für das häusliche Leben sein. Temperamentvolle Väter fielen in Ungnade, weil sie ihre Schönheit zu sehr bewunderten. Töchter beneideten sie. Söhne beneideten ihn. Ungezählte verliebte Paare machten sich die Gelegenheit zunutze; alle waren voll Beteiligung, Aufregung und Erwartung.
Mr. Craggs und Mrs. Craggs erschienen Arm in Arm, aber Mrs. Snitchey erschien allein. »Mein Gott, wo haben Sie Ihren Mann?« fragte der Doktor.
Der Paradiesvogel auf Mrs. Snitcheys Turban bebte, als ob er wieder lebendig geworden wäre, und sie sagte, daß es jedenfalls Mr. Craggs wisse. Ihr teilten sie es ja nie mit.
»Das garstige Bureau«, sagte Mr. Craggs.
»Ich wollte, es würde bis auf den Grund niederbrennen«, seufzte Mrs. Snitchey.
»Er ist – er ist – eine kleine geschäftliche Angelegenheit hält meinen Sozius etwas auf«, sagte Mr. Craggs und sah sich beunruhigt um.
»Ach was, geschäftliche Angelegenheit. Machen Sie mir das nicht weis!« begann Mrs. Snitchey.
»Wir wissen, was es heißt, geschäftliche Angelegenheit«, sagte Mrs. Craggs.
Aber daß sie es nicht wußten, war vielleicht die Ursache, weshalb Mrs. Snitcheys Paradiesvogel so unheilverkündend bebte und alle einzelnen Teile von Mrs. Craggs’ Ohrringen wie kleine Schellen läuteten.
»Es wundert mich, daß du kommen konntest, Craggs«, meinte seine Frau.
»Mr. Craggs ist darob glücklich, sicherlich«, sagte Mrs. Snitchey.
»Das Bureau nimmt sie so in Anspruch«, sagte Mrs. Craggs.
»Jemand, der ein Geschäft hat, darf eigentlich gar nicht heiraten«, sagte Mrs. Snitchey.
Dann stellte Mrs. Snitchey für sich fest, daß der Blick, mit dem sie dies gesagt, Craggs ins tiefste Herz getroffen habe und daß er dies empfinde. Mrs. Craggs aber meinte zu ihrem Gatten, daß Snitchey ihn hinter dem Rücken betrüge, und daß er das erkennen werde, wenn es zu spät sei.
Aber Mr. Craggs blickte sich, ohne diese Bemerkungen sehr zu beachten, noch immer beunruhigt um, bis sein Blick Grace begegnete, die er alsbald begrüßte.
»Guten Abend, Ma’am«, sagte Craggs. »Sie sehen entzückend aus. Ihre – Fräulein – Ihre Schwester, Fräulein Marion ist –«
»O, sie ist ganz munter, Mr. Craggs.«
»Ja – ich – ist sie hier?« fragte Craggs.
»Hier! sehen Sie sie dort nicht? Sie tritt eben zum Tanz an«, sagte Grace.
Mr. Craggs setzte die Brille auf, um besser zu sehen; musterte Marion eine Weile. Dann räusperte er sich und steckte die Brille mit zufriedener Miene wieder ins Futteral und in die Tasche.
Jetzt erklang die Musik und der Tanz hob an. Das helle Feuer prasselte lustig und sprang, als ob es vor lauter Freude selber mit tanzen wollte. Zuweilen knisterte es, als wollte es auch musizieren. Dann wieder strahlte und glühte es, als wäre es das Auge des alten Zimmers, und manchmal zwinkerte dies Auge pfiffig, wie ein ausgelassener Alter, wenn er die Jugend in den Ecken miteinander tuscheln sieht. Manchmal kokettierte es mit den Stechpalmenzweigen; und wenn sein flimmernder Schein auf die dunkeln Blätter fiel, schien es, als ständen diese wieder draußen in der kalten Winternacht und wurden gezaust vom Winde. Manchmal ward seine Stimmung ganz wild und ausgelassen und übersprang alle Grenzen. Dann verpustete es laut lachend mitten unter die Tanzenden einen Regen harmloser Funken und schwang sich laut jubelnd den alten Schornstein empor. Ein zweiter Tanz war fast vorüber, da ergriff Mr. Snitchey seinen zuschauenden Sozius beim Arm.
Mr. Craggs zuckte zusammen, als wäre sein Freund ein Geist.
»Ist er fort?« fragte er.
»Pscht!« sagte Snitchey. »»Er hat länger als drei Stunden bei mir verweilt. Er überprüfte alles und nahm es sehr gründlich. Er – hm!«
Der Tanz war vorbei. Marion schritt dicht an ihm vorüber, als er redete. Sie achtete weder auf ihn noch seinen Sozius, vielmehr sah sie sich nach ihrer Schwester im Hintergrunde des Saales um, als sie langsam durch das Gewimmel schritt und ihren Blicken entschwand.
»Sehen Sie, alles gut und