Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf страница 104
Wieder schwieg Klement und er wartete, daß der Kleine ein Zeichen geben sollte, der aber rührte sich nicht.
»Ja,« sagte Klement, »dann bleibt mir wohl nichts weiter übrig, als dich dem Herrn hier zu zeigen. Und dann wirst du in einen Glasschrank gesetzt, und alle Menschen in ganz Stockholm kommen, um dich zu sehen.«
Dies schien den Kleinen jedoch zu erschrecken, und kaum hatte Klement ausgeredet, als er das Zeichen gab.
»Das ist recht,« sagte Klement, nahm sein Messer und durchschnitt die Schnur, mit der die Hände des Kleinen gebunden waren. Dann ging er schnell auf die Tür zu.
Der Junge löste das Band um seine Knöchel und nahm den Knebel aus dem Munde, ehe er an etwas anderes dachte. Als er sich dann nach Klement Larsson umwandte, um ihm zu danken, war der schon verschwunden.
*
Klement war kaum zur Tür hinausgekommen, als er einem schönen und vornehmen alten Herrn begegnete, der sich offenbar auf dem Wege nach einem herrlichen Aussichtspunkt dort in der Nähe befand. Klement konnte sich nicht entsinnen, den vornehmen alten Herrn schon früher gesehen zu haben, der aber hatte Klement offenbar einmal bemerkt, als er Violine spielte, denn er hielt ihn an und ließ sich auf ein Gespräch mit ihm ein.
»Guten Tag, Klement,« sagte er. »Wie geht es dir? Du bist doch nicht krank? Ich finde, du bist in der letzten Zeit so mager geworden.«
Der alte Herr hatte etwas so unbeschreiblich Freundliches, daß Klement Mut faßte und ihm erzählte, wie sehr er unter dem Heimweh leide.
»Aber hör’ einmal!« sagte der alte vornehme Herr. »Du sehnst dich nach Hause, wenn du in Stockholm bist? Das kann doch nicht möglich sein!«
Und der vornehme alte Herr sah beinahe beleidigt aus. Aber dann mochte ihm wohl einfallen, daß der, zu dem er sprach, nur ein unwissender alter Bauersmann aus Helsingland war, und da wurde er wieder so wie vorher.
»Du hast wohl noch nie gehört, wie Stockholm entstanden ist, Klement. Wüßtest du das, so würdest du verstehen, daß es nur eine Einbildung von dir ist, wenn du dich von hier wegsehnst. Komme mit mir nach der Bank da, dann will ich dir ein wenig von Stockholm erzählen.«
Als der vornehme alte Mann sich auf die Bank gesetzt hatte, sah er erst eine Weile auf Stockholm hinab, das in all seiner Pracht unter ihm ausgebreitet lag, und dann atmete er tief auf, als wolle er die ganze Schönheit der Stadt einatmen. Darauf wandte er sich an den Spielmann.
»Sieh einmal, Klement,« sagte er, und während er sprach, zeichnete er in dem Kiesgang zu ihren Füßen eine kleine Karte. »Hier liegt Uppland, und hier schiebt es nach Süden zu eine Landzunge vor, in die eine Menge Buchten einschneiden. Und hier kommt Sörmland mit einer anderen Landzunge, die ebenso eingeschnitten ist und schnurgerade nach Norden geht. Und hier kommt ein See von Westen her, der ist voller Inseln: das ist der Mälar. Und hier kommt von Osten her ein anderes Gewässer, das vor lauter Inseln und Schären kaum weiterkommen kann, das ist die Ostsee. Und hier, Klement, wo Uppland sich mit Sörmland begegnet, und der Mälarsee mit der Ostsee zusammentrifft, läuft ein kleiner Fluß, der heißt Norrström, und mitten im Norrström liegen drei Werder.
Anfangs waren diese Werder nichts weiter als gewöhnliche Werder mit ein paar Bäumen darauf, von der Art, wie sie noch heute zahlreich im Mälar liegen, und sie lagen lange Zeit ganz unbewohnt da. Eine gute Lage hatten sie ja freilich, da sie mitten zwischen zwei Gewässern und zwei Landschaften lagen, aber das beachtete niemand. Ein Jahr nach dem anderen ging dahin. Die Leute siedelten sich auf den Mälarinseln und draußen in den Schären an, aber die drei Werder im Strom bekamen keine Einwohner. Ausnahmsweise konnte es wohl einmal geschehen, daß ein Schiffer bei einem von ihnen anlegte und sein Zelt für die Nacht dort aufschlug.
Niemand aber blieb dauernd dort.
Es war schon spät im Sommer, und das Wetter war noch schön, obwohl die Abende bereits anfingen, dunkel zu werden. Der Fischer zog sein Boot an Land, legte sich daneben, den Kopf auf einem Stein und schlief ein. Als er erwachte, war der Mond schon lange aufgegangen. Er stand gerade über seinem Kopf und leuchtete gar prächtig, so daß es fast ganz hell war.
Der Mann fuhr in die Höhe und wollte eben das Boot ins Wasser schieben, als er eine Menge schwarzer Punkte sich draußen auf dem Meer bewegen sah. Es war eine große Schar Seehunde, die in voller Fahrt auf den Werder zukamen. Als der Fischer sah, daß die Seehunde scheinbar an Land kriechen wollten, duckte er sich nieder, um nach seinem Spieß zu suchen, den er immer im Boot bei sich hatte. Als er sich aber wieder aufrichtete, waren keine Seehunde mehr zu sehen; statt ihrer standen am Ufer des Sees die schönsten jungen Mädchen in schleppenden, grünen seidenen Gewändern und mit Perlenkränzen im Haar. Da begriff der Fischer, daß es Meerjungfrauen waren, die auf den öden Schären, weit draußen im Meer wohnten, und die nun Seehundkleider angelegt hatten, um an Land zu schwimmen und sich im Mondschein auf den grünen Werdern zu belustigen.
Ganz leise legte er den Spieß wieder hin, und als die Meerjungfrauen auf den Werder hinaufkamen, um zu spielen, schlich er hinterdrein und betrachtete sie. Er hatte gehört, daß die Meerjungfrauen so schön und anmutig sein sollten, daß niemand sie sehen könne, ohne von ihrer Schönheit bezaubert zu sein, und er mußte zugeben, daß dies keine Übertreibung war.
Als er ihrem Tanz unter den Bäumen eine Weile zugesehen hatte, ging er an den Strand hinab, nahm eines der Seehundkleider, die dort lagen, und versteckte es unter einem Stein. Dann kehrte er nach seinem Boot zurück, legte sich daneben und stellte sich schlafend.
Bald darauf sah er die Meerjungfrauen an den Strand hinab kommen, um die Seehundkleider anzuziehen. Anfangs war alles Spiel und Fröhlichkeit, bald aber verwandelte es sich in Jammer und Klagen, weil eine von ihnen ihr Gewand nicht finden konnte. Sie liefen alle am Ufer hin und her und halfen ihr suchen, keine aber fand es. Wahrend sie so liefen und suchten, sahen sie, daß der Himmel hell wurde und daß der Tag nahe war. Da schien es, als könnten sie nicht länger bleiben, sie schwammen alle davon bis auf diejenige, die kein Seehundkleid hatte. Die blieb am Strande sitzen und weinte.
Der Fischer hatte ja freilich großes Mitleid mit ihr, aber er zwang sich, ruhig liegen zu bleiben, bis es heller Tag geworden war. Da stand er auf und schob das Boot in die See hinaus, und als er die Ruder schon erhoben hatte, tat er so, als erblicke er sie ganz zufällig. ›Was für eine bist denn du?‹ rief er. ›Bist du eine Schiffbrüchige?‹
Sie stürzte auf ihn zu und fragte, ob er nicht ihr Seehundkleid gesehen habe, der Fischer aber tat so, als verstehe er nicht einmal, wonach sie ihn fragte. Da setzte sie sich wieder hin und weinte, aber nun schlug er ihr vor, zu ihm in sein Boot zu kommen. ›Komm mit nach Hause in meine Hütte,‹ sagte er. ›Dann kann meine Mutter sich deiner annehmen. Du kannst doch nicht hier auf dem Werder sitzen bleiben, wo du weder ein Bett noch einen Bissen Essen bekommen kannst!‹ Und er sprach so gut, daß sie sich überreden ließ, zu ihm in das Boot zu kommen.
Der Fischer wie auch seine Mutter waren unbeschreiblich gut gegen die arme Meerjungfrau, und sie schien sich sehr wohl bei ihnen zu befinden. Mit jedem Tage wurde sie fröhlicher, sie half der Alten bei der Arbeit und war ganz so wie ein Fischermädchen, nur daß sie viel schöner war als alle die anderen. Eines Tages fragte der Fischer sie, ob sie seine Frau werden wolle, und dagegen hatte sie nichts einzuwenden; sie sagte sogleich ja.