Die Lilie im Tal. Оноре де Бальзак

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Die Lilie im Tal - Оноре де Бальзак

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Am Abend, während des Gebets, rühmten sich die Barbaren vor uns der guten Mahlzeiten, die sie mit ihren Verwandten eingenommen hatten. Sie werden sehen, dass mein Unglück immer mehr anwächst, je größer der soziale Kreis wird, der mich aufnimmt. Was habe ich nicht alles versucht, um endlich dem Schicksal zu entgehen, das mich dazu verurteilt, immer nur auf mich allein angewiesen zu sein. Wie viele Hoffnungen habe ich, wie lange sie inbrünstig genährt, die an einem Tage zerrannen! Ich wollte meine Eltern bewegen, in die Schule zu kommen, und schrieb ihnen lange, gefühlvolle Briefe, deren Sprache vielleicht übertrieben war. Aber mussten denn diese Briefe mir gleich die Vorwürfe meiner Mutter zuziehen, die mir ironische Verweise wegen meines Stils erteilte? Ich ließ mich trotzdem nicht entmutigen und versprach, alle Bedingungen zu erfüllen, die Vater und Mutter an ihre Zusage knüpften; ich bat flehentlich um die Teilnahme meiner Schwestern, denen ich regelmäßig zu ihren Geburtstagen und Namensfesten schrieb, mit der Pünktlichkeit armer, verlassener Kinder und mit einer Geduld, die niemals belohnt wurde. Als der Tag der Preisverteilung herannahte, verdoppelte ich meine Bitten; ich sprach von Triumphen, die ich ahnte ... Schließlich ließ ich mich durch das Schweigen meiner Eltern täuschen; ich erwartete sie mit einer überschwenglichen Freude, die ich täglich höher schraubte, kündigte sie meinen Kameraden an, und wenn dann beim Eintreffen der Angehörigen der Schritt des alten Pförtners, der die Schüler benachrichtigte, in den Höfen widerhallte, verspürte ich ein krankhaftes Erzittern des Herzens. Niemals sprach der Alte meinen Namen aus. Am Tage, als ich mich anklagte, das Leben verflucht zu haben, wies mein Beichtvater in den Himmel, wo die Palme blühe, die uns durch das ›Beati qui lucent‹ des Erlösers versprochen ist. So warf ich mich denn bei meiner ersten Kommunion in die geheimnisvollen Abgründe des Gebets und überließ mich den religiösen Gedanken, deren moralische Zaubereien ein junges Gemüt entzücken. Ich war von einem inbrünstigen Glauben beseelt und bat Gott, er möge für mich die bestrickenden Wunder erneuern, von denen ich in der Geschichte der Märtyrer las. Mit fünf Jahren entflog ich zu einem Stern, mit zwölf Jahren klopfte ich an die Pforten des Allerheiligsten. Die Entzückung weckte in mir unsagbare Träume, die meine Einbildung bevölkerten, meine Zärtlichkeit vertieften und meine Denkkraft stärkten. Ich habe oft gedacht, dass diese erhabenen Gesichte mir von Engeln kamen, die nach göttlichem Ratschluss meine Seele formten: sie haben meinen Augen die Fähigkeit gegeben, den heimlichen Sinn der Dinge zu erkennen, und mein Herz mit jenen Zauberkräften ausgestattet, die aus dem Dichter einen Unglücklichen machen, wenn er die verhängnisvolle Gabe besitzt, seine Gefühle mit der Wirklichkeit, die großen Absichten mit dem Wenigen zu vergleichen, das er erreicht; sie haben in meinen Geist Worte und Sätze gegraben, die mir vorschrieben, was ich auszudrücken hatte; sie haben meine Lippen mit der feurigen Beredsamkeit des Erfinders begabt.

      Meinem Vater stiegen über den Wert des Unterrichts bei den Oratorianern Zweifel auf; er nahm mich aus der Schule in Pont-le-Voy, und ich kam nun in eine Pariser Erziehungsanstalt, die im Marais gelegen war. Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Nach einer eingehenden Prüfung wurde der Rhetorikschüler von Pont-le-Voy würdig erachtet, in die dritte Klasse einzutreten. Die Leiden, die ich in meiner Familie, in der Schule und im Internat durchgekostet hatte, erfuhr ich in erneuter Form während meines Aufenthalts in der Pension Lepître. Mein Vater hatte mir kein Geld gegeben. Es genügte meinen Eltern, zu erfahren, dass ich genährt und gekleidet sowie mit Latein und Griechisch überfüttert würde, und sie entschlossen sich, mich dort zu lassen. Im Laufe meines Schülerlebens habe ich etwa tausend Kameraden kennengelernt. Nie wieder habe ich ein solches Beispiel elterlicher Gleichgültigkeit gesehen. Als fanatischer Anhänger der Bourbonen hatte Monsieur Lepître Beziehungen zu meinem Vater gehabt zu der Zeit, als treue Royalisten Marie-Antoinette aus dem Temple zu retten versuchten. Sie hatten ihre Bekanntschaft erneuert. Monsieur Lepître glaubte sich daher verpflichtet, die Gleichgültigkeit meines Vaters wieder gutzumachen; aber die Summe, die er mir monatlich zur Verfügung stellte, war unzureichend; er konnte ja auch nicht wissen, was meine Familie mit mir vorhatte. Das Internat befand sich im alten Hôtel Joyeuse, das wie alle herrschaftlichen Häuser früherer Zeiten eine Portierloge hatte. In der Pause vor der Stunde, für die der Hilfslehrer uns ins Lycée Charlemagne begleitete, gingen meine begüterten Kameraden zu Doisy, dem Portier, um bei ihm zu frühstücken. Monsieur Lepître drückte ein Auge zu oder wusste überhaupt nichts von den Besuchen bei Doisy, einem ausgemachten Schmuggler, mit dem alle Schüler auf möglichst gutem Fuß zu stehen suchten: er deckte unsere heimlichen Ausschreitungen, er wusste um unser spätes Nachhausekommen, er vermittelte uns verbotene Lektüre. Eine Tasse Milchkaffee galt für einen aristokratischen Luxus, was sich daraus erklärt, dass Kolonialwaren zur Zeit Napoleons gewaltig im Preise gestiegen waren. Wenn der Genuss von Zucker und Kaffee schon bei den Eltern einen Luxus bedeutete, so war er bei uns Kindern nichts als eitle Großtuerei. Allein die Seltenheit des Genusses hätte unsere Begehrlichkeit reizen müssen, wenn nicht Nachahmungstrieb, Naschhaftigkeit und Modesucht genügt hätten. Doisy gab uns Kredit; er dichtete uns allen irgendwelche Schwestern oder Tanten an, die unsere Großmannssucht gutheißen und unsere Schulden bezahlen sollten. Ich widerstand lange den Lockungen des Ausschankes. Wenn meine Richter die Macht der Versuchung, die heldenhaften Anläufe meiner Seele zum Stoizismus, den verhaltenen Grimm meines langen Widerstandes gekannt hätten – sie hätten meine Tränen getrocknet, statt mich erst recht zum Weinen zu bringen. Doch wie konnte ich als Kind die seelische Größe haben, die uns die Verachtung anderer verachten lehrt? Zudem verspürte ich vielleicht schon damals die Symptome mehrerer sozialer Laster, deren Macht durch meine Begehrlichkeit noch gesteigert wurde.

      Gegen Ende des zweiten Schuljahres kamen mein Vater und meine Mutter nach Paris. Der Tag ihrer Ankunft wurde mir von meinem Bruder mitgeteilt. Er lebte in Paris und hatte mich nicht ein einziges Mal besucht. Meine Schwestern nahmen an der Reise teil, und wir sollten zusammen Paris besichtigen. Am ersten Tage wollten wir im Palais-Royal zu Abend essen, um in nächster Nähe des Théâtre-Français zu sein. Trotz der Trunkenheit, die mich bei diesem unerwarteten Festprogramm erfasste, wurde meine Freude doch durch die Gewitterschwüle beeinträchtigt, die so gern auf den Gemütern der mit dem Unglück Vertrauten lastet. Ich hatte meinen Eltern hundert Francs Schulden einzugestehen, da Meister Doisy damit drohte, dass er selbst sich sonst an sie wenden werde. Ich ersann den Ausweg, meinen Bruder als Unterhändler mit Doisy, als Dolmetsch meiner Reue und als Fürsprecher für meine Verzeihung vorzuschieben. Mein Vater neigte zur Nachsicht, aber meine Mutter war unerbittlich. Der Blick ihrer dunkelblauen Augen ließ mich erstarren. Sie stieß schreckliche Prophezeiungen aus: Wo sollte es mit mir noch hinaus, wenn ich schon im Alter von siebzehn Jahren mir derartige Streiche zuschulden kommen ließe; ob ich tatsächlich ihr Sohn sei; ob ich meine Familie ins Unglück stürzen wolle; ob ich denn der einzige zu Hause sei; verlangte nicht die Laufbahn, die mein Bruder Charles eingeschlagen hätte, schon genügend große Geldopfer, deren er sich aber würdig gezeigt habe durch ein Betragen, das seiner Familie zur Ehre gereiche, während ich ihr Schandfleck sei? Ob etwa meine Schwestern ohne Mitgift heiraten sollten; ob ich denn den Wert des Geldes nicht kennte und nicht wüsste, wieviel ich kostete? Was denn Kaffee und Zucker mit meiner Erziehung zu tun hätten; sei ein solches Benehmen nicht aller Laster Anfang? – Im Vergleich zu mir war Marat ein Engel! ... Als ich diesen Sturzbach, der tausend Schrecknisse in meine Seele wälzte, über mich hatte ergehen lassen, führte mich mein Bruder in die Anstalt zurück. Ich kam um das Diner bei den Frères Provençaux und um das Vergnügen, Talma im ›Britannicus‹ zu sehen. Das war mein Wiedersehen mit meiner Mutter nach zwölfjähriger Trennung!

      Als ich meine humanistischen Studien beendet hatte, überließ mich mein Vater auch weiterhin der Fürsorge des Monsieur Lepître. Ich sollte höhere Mathematik treiben, ein Jahr lang Jurisprudenz studieren und mich dann einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit widmen. Zwar war ich Interner, aber schulfrei, und so wagte ich zu glauben, dass zwischen dem Elend und mir ein Waffenstillstand eingetreten sei. Aber trotz meiner neunzehn Jahre oder vielleicht wegen meiner neunzehn Jahre blieb mein Vater bei dem System, wonach ich früher ohne Mundvorräte in die Schule geschickt, im Internat aller kleinen Freuden beraubt und zum Schuldner Doisys gemacht worden war. Ich hätte nur wenig Geld zur Verfügung. Was sollte ich in Paris ohne Geld anfangen? Übrigens wurde meine Freiheit mit Vorbedacht an die Kette gelegt. Monsieur Lepître ließ mich in die juristische Fakultät begleiten, durch einen Bonzen, der mich in die Hände des Professors ablieferte und wieder abholte. Ein junges Mädchen wäre mit weniger Sorgfalt gehütet

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