Der Glöckner von Notre Dame. Victor Hugo
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Читать онлайн книгу Der Glöckner von Notre Dame - Victor Hugo страница 19
Die Menge klatschte aus Leibeskräften Beifall.
»Entweihung! Verspottung des Heiligen!« ließ sich die Stimme des kahlköpfigen Mannes von neuem vernehmen.
Die Zigeunerin wandte sich noch einmal um.
»Ach!« sagte sie, »es ist der grobe Mensch.«
Dann zog sie ihre Unterlippe über die Oberlippe und machte ein schiefes Gesichtchen, wie es ihr geläufig zu sein schien, drehte sich auf der Ferse im Kreise herum und begann in ihrem Tamburin die Geschenke der Menge einzusammeln.
Es regnete ganze und halbe Weißpfennige, Schild-und Adlerpfennige. Plötzlich ging sie vor Gringoire vorbei. Gringoire fuhr so leichtsinnig mit der Hand in die Tasche, daß sie stillstand. »Zum Teufel!« sagte der Dichter, als er auf dem Grunde seiner Tasche die Wirklichkeit, d.h. die Leere fand. Doch das hübsche Mädchen blieb stehen, hielt ihm das Tamburin hin und wartete, während Gringoire dicke Tropfen schwitzte.
Wenn er Peru in seiner Tasche gehabt hätte, gewiß er hätte es der Tänzerin gegeben; aber Gringoire hatte Peru nicht, und übrigens war Amerika noch nicht entdeckt.
Glücklicherweise kam ihm ein unerwartetes Ereignis zu Hilfe.
»Wirst du dich fortscheeren, ägyptische Heuschrecke!« rief eine schneidende Stimme, welche aus dem dunkelsten Winkel des Platzes herkam. Das junge Mädchen drehte sich erschrocken um. Das war nicht mehr die Stimme des kahlköpfigen Mannes; es war eine Frauenstimme, eine frömmelnde und garstige Stimme.
Uebrigens versetzte dieser Ruf, der die Zigeunerin erschreckte, einen Haufen Kinder in Freude, welche dort herumstrichen.
»Es ist die Klausnerin vom Rolandsthurme,« riefen sie mit schallendem Gelächter, »es ist die Nonne, welche schilt! Hat sie nicht zu Abend gegessen? Wir wollen ihr ein Ueberbleibsel vom Credenztische der Stadt bringen!«
Alle stürzten nach dem Säulenhause hin.
Währenddessen hatte Gringoire die Verwirrung der Tänzerin benutzt und sich unsichtbar gemacht. Das Geschrei der Kinder erinnerte ihn daran, daß er auch noch nicht zu Abend gegessen habe. Er lief also zum Credenztische. Aber die kleinen Taugenichtse hatten bessere Beine als er; als er ankam, hatten sie bereits reine Bahn gemacht. Es war nicht einmal mehr ein lumpiger Honigkuchen übrig, das Pfund zu fünf Sous. An der Wand befand sich nichts weiter, als schlanke Lilien, mit Rosen untermischt, die Mathieu Biterne im Jahre 1434 gemalt hatte, – fürwahr ein mageres Abendessen.
Es ist etwas Unangenehmes, ohne Abendbrot zu Bette zu gehen; noch weniger spaßhaft aber ist es, nichts zu essen zu haben und nicht zu wissen, wo das Haupt niederlegen. Gringoire war in dieser Lage. Kein Brot, kein Nachtlager; er sah sich von allen Seiten durch die Noth bedrängt, und er fand die Noth sehr sonderbar. Er hatte seit langer Zeit die Wahrheit entdeckt, daß Jupiter die Menschen in einem Anfalle von Menschenhaß geschaffen habe, und daß im Leben des Weisen das Schicksal die Philosophie im Belagerungszustande hält. Was ihn betraf, so hatte er die Blokade noch niemals so vollständig gesehen; er hörte seinen Magen Generalmarsch schlagen, und er fand es recht dumm, daß sein böses Geschick seine Philosophie durch Hunger bedrängte.
Dieser melancholische Gedanke bemächtigte sich seiner mehr und mehr, als ein seltsamer, wiewohl lieblicher Gesang, ihn plötzlich aus seiner Träumerei weckte. Es war die junge Zigeunerin, welche sang.
Mit ihrer Stimme war es, wie mit ihrem Tanze und mit ihrer Schönheit. Es lag etwas Unerklärliches und Liebliches, etwas Reines und Wohlklingendes, so zu sagen Leichtes, Geflügeltes darin. Es waren fortgesetzte Ergüsse, Melodien, unerwartete Cadenzen, bald einfache Worte voll scharfer und zischender Töne, bald Tonleitersprünge, welche eine Nachtigall verwirrt hätten, aber stets voll Harmonie, bald weiche Octavengänge, welche sich hoben und senkten, wie der Busen der jungen Sängerin. Ihr schönes Gesicht begleitete mit seltsamer Beweglichkeit alle Einfälle ihres Gesanges, von der tollsten Begeisterung bis zur keuschesten Würde. Man hätte sie bald eine Wahnwitzige, bald eine Königin nennen mögen.
Die Worte, welche sie sang, gehörten einer für Gringoire unbekannten Sprache an, und schienen ihr selbst unbekannt zu sein, so wenig paßte der Vortrag des Gesanges zum Sinne der Worte. Daher waren folgende vier Verse in ihrem Munde von einer närrischen Lustigkeit:
Un cofre de gran riqueza
Hallaron dentro un pilar,
Dentro del, nuevas banderas,
Con figuras de espantar.
Und gleich darauf, bei dem Tone, mit welchem sie folgende Strophe sang:
Alarabes de cavallo
Sin poderse menear,
Con espadas, y los cuellos
Bellestas de buen echar.
fühlte Gringoire, wie ihm die Thränen in die Augen traten. Doch athmete ihr Gesang vornehmlich Freude, und sie schien wie ein Vogel heiter und sorglos ihr Lied zu singen.
Der Gesang der Zigeunerin hatte Gringoire in seinen Träumen gestört, aber so wie der Schwan das Wasser aufregt. Er hörte ihr mit einer Art Entzücken und gänzlicher Vergessenheit zu. Seit mehreren Stunden war es der erste Augenblick, wo er sich nicht unglücklich fühlte.
Dieser Augenblick war kurz.
Dieselbe Frauenstimme, welche den Tanz der Zigeunerin unterbrochen hatte, störte jetzt ihren Gesang.
»Wirst du wohl schweigen, du Höllencikade?« rief sie wiederholt aus demselben dunkeln Winkel des Platzes her.
Die arme »Cikade« blieb stecken. Gringoire hielt sich die Ohren zu.
»Ach!« rief er, »die verfluchte zahnlose Säge zerbricht die Lyra!«
Auch die übrigen Zuschauer murrten wie er. »Zum Teufel mit der Nonne!« sagte mehr als einer. Und die alte, unsichtbare Freudeverderberin hätte ihre Angriffe auf die Zigeunerin bald bereuen sollen, wenn nicht in diesem Augenblicke die Menge von dem Zuge des Narrenpapstes angezogen worden wäre. Dieser war durch eine Menge Straßen und Gassen gezogen, und ergoß sich mit allen seinen Fackeln und mit großem Lärme auf den Grèveplatz.
Dieser Zug, den unsere Leser aus dem Palaste haben abziehen sehen, hatte sich unterwegs gebildet, und aus allem, was an Taugenichtsen, Dieben und Vagabunden in Paris vorhanden war, zusammengesetzt; darum bot er einen beachtenswerthen Anblick dar, als er auf dem Grèveplatze ankam.
Voran ging Aegypten: der Herzog von Aegypten an der Spitze, zu Pferde, begleitet von seinen Grafen zu Fuße, welche ihm Zaum und Steigbügel hielten; hinter ihnen Zigeuner und Zigeunerinnen durch einander, mit ihren schreienden Kindern auf den Schultern; alle zusammen, der Herzog, die Grafen, das gemeine Volk in Lumpen und Flitterstaat gehüllt. Dann kam das Königreich Rothwälschland: das heißt alle Diebe Frankreichs, stufenweise nach ihrer Rangordnung einherschreitend, die Geringsten zuerst. So zogen sie vier und vier vorbei mit den verschiedenen Abzeichen ihrer Würde in dieser befremdlichen Gilde; die meisten gelähmt, diese hinkend, jene einarmig: die Ladendiener, die Pilger, die Einbrecher, die Epileptischen, die kindischen Alten, die Schnorrer, die Zotenreißer, die künstlichen Krüppel, die Spieler, die Siechen, die Abgebrannten, die Krämer, die Rothwälscher,