Die Brüder Karamasow. Федор Достоевский
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Читать онлайн книгу Die Brüder Karamasow - Федор Достоевский страница 56
Am meisten quälte Aljoscha der Gedanke, sein Bruder könnte sich über Katerina Iwanownas Demütigung gewissermaßen freuen – obwohl das natürlich ausgeschlossen war.
»Donnerwetter!« rief Dmitri Fjodorowitsch, machte plötzlich ein furchtbar finsteres Gesicht und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Erst jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit hierauf. Obwohl Aljoscha soeben alles berichtet hatte, auch die Beleidigung und auch Katerina Iwanownas Ausruf: »Ihr Bruder ist ein Schuft!« – trotzdem schien ihm dies bisher nicht aufgefallen zu sein. »Ja, ich habe wirklich Gruschenka von jenem unseligen Tag, wie Katja ihn nennt, erzählt. Ja, ich erinnere mich! Das war damals in Mokroje, ich war betrunken, die Zigeunerinnen sangen ... Ich habe aber dabei geschluchzt, habe auf den Knien gelegen und vor Katjas Bild gebetet, und Gruschenka hatte dafür Verständnis. Sie hat damals alles verstanden, ich erinnere mich, sie hat selbst geweint ... Zum Teufel! Damals hat sie geweint und jetzt ... Jetzt stößt sie ihr den Dolch ins Herz! So sind die Weiber!«
Er ließ den Kopf sinken und dachte nach.
»Ja, ich bin ein Schuft! Zweifellos bin ich ein Schuft«, sagte er plötzlich in düsterem Ton. »Ganz gleich, ob ich geweint habe oder nicht, ganz gleich, ich bin ein Schuft! Bestell ihr, daß ich die Bezeichnung annehme, wenn ihr das ein Trost sein kann. Na, nun genug, leb wohl! Wozu noch länger schwatzen! Das ist nicht erfreulich. Geh du deinen Weg, und ich werde meinen gehen. Und ich will dich auch bis zum letzten Augenblick nicht mehr wiedersehen. Leb wohl, Alexej!«
Er drückte seinem Bruder kräftig die Hand und ging, als ob er sich von ihm losriß, mit schnellen Schritten und den Kopf gesenkt, auf die Stadt zu. Aljoscha sah ihm nach und konnte nicht glauben, daß er so fortgegangen sein sollte.
»Warte, Alexej! Noch ein Bekenntnis nur für dich allein!« rief Dmitri Fjodorowitsch auf einmal und kehrte nochmals um. »Sieh mich an, sieh mich genau an! Hier, hier bereitet sich eine furchtbare Gemeinheit vor.« Bei den Worten »Hier, hier« schlug sich Dmitri Fjodorowitsch mit der Faust an die Brust, und zwar so seltsam, als ob die Gemeinheit gerade dort an seiner Brust irgendwo verwahrt wäre, vielleicht in einer Tasche oder in ein Beutelchen eingenäht. »Du kennst mich nun schon, ich bin ein Schuft, eingestandenermaßen ein Schuft! Aber du mußt wissen – nichts von allem, was ich früher getan habe, kann sich mit der Gemeinheit vergleichen, die ich gerade jetzt, in diesem Augenblick, hier an meiner Brust trage. Siehst du: hier, hier. Sie regt sich schon und vollzieht sich, und es sieht ganz in meiner Macht, ihr Einhalt zu gebieten. Ich kann ihr Einhalt gebieten oder sie ausführen! Nun, du sollst wissen, ich werde sie ausführen und ihr nicht Einhalt gebieten. Ich habe dir vorhin alles erzählt: nur dies nicht, weil sogar meine eiserne Stirn dazu nicht ausreichte! Noch kann ich einhalten, und wenn ich es tue, kann ich gleich morgen die Hälfte meiner verlorenen Ehre wiedergewinnen! Aber ich werde nicht einhalten, ich werde die Gemeinheit ausführen – und du sollst für die Zukunft Zeuge sein, daß ich das vorher und mit vollem Bewußtsein gesagt habe! Ich kann dir jetzt nichts weiter erklären, zu gegebener Zeit wirst du alles erfahren! Bei der stinkenden Gasse und der Teufelin! Leb wohl! Bete nicht für mich, das verdiene ich nicht, und es ist überhaupt nicht nötig, überhaupt nicht nötig! Ich bedarf dessen ganz und gar nicht! Doch genug jetzt, ich gehe!«
Und er entfernte sich, diesmal endgültig.
Aljoscha ging zum Kloster. »Soll ich ihn wirklich niemals wiedersehen, wie er sagt?« fragte er sich bestürzt. »Ich werde ihn gleich morgen aufsuchen, unter allen Umständen, und ihn fragen, ausdrücklich fragen, was er gemeint hat!«
Er ging um das Kloster herum und lief durch den kleinen Fichtenwald direkt zur Einsiedelei. Dort wurde ihm geöffnet, obgleich man sonst zu dieser Stunde niemand mehr einließ. Das Herz bebte ihm, als er die Zelle des Starez betrat. ›Warum hin ich hinausgegangen?‹ fragte er sich. ›Warum hat er mich »in die Welt« gesandt? Hier ist Stille, hier ist eine heilige Stille, dort herrscht Verwirrung und Finsternis, in der man sofort wankend wird und sich verirrt ...‹
In der Zelle befanden sich der Novize Porfiri und der Priestermönch Vater Paissi, der den ganzen Tag über stündlich gekommen war, um sich nach dem Befinden des Vaters Sossima zu erkundigen, dem es schlechter und schlechter ging, wie Aljoscha zu seinem Schrecken hörte. Selbst das übliche Abendgespräch mit der Brüderschaft hatte diesmal nicht stattfinden können. Gewöhnlich versammelte sich jeden Abend nach dem Gottesdienst die Klosterbrüderschaft vor dem Schlafengehen in der Zelle des Starez, und jeder beichtete laut die Sünden des Tages, sündige Gedanken, Versuchungen, sogar Streitigkeiten mit anderen Brüdern, wenn solche vorgekommen waren. Manche beichteten knieend. Der Starez sprach von den Sünden los, versöhnte, belehrte, legte Bußen auf, erteilte den Segen und entließ sie. Gerade diese »brüderlichen Beichten« waren es, wogegen sich die Gegner des Starzentums erhoben; sie sagten, das sei eine Profanation des Sakramentes der Beichte, beinahe eine Gotteslästerung, obgleich es sich hier in Wirklichkeit um etwas ganz anderes handelte. Sie machten sogar gegenüber der geistlichen Obrigkeit geltend, solche Beichten hätten nicht nur nichts Gutes zur Folge, sondern führten in Wirklichkeit oft in Versuchung und gäben zur Sünde Anlaß. Vielen aus der Brüderschaft sei es peinlich, zum Starez zu gehen; sie gingen aber, weil es alle tun, wider ihren Willen, um nicht des Stolzes und der rebellischen Gesinnung beschuldigt zu werden. Es wurde erzählt, einige von der Brüderschaft träfen, wenn sie sich zu der abendlichen Beichte begeben, untereinander im voraus Abmachungen, etwa dieser Art: »Ich sage, ich bin am Vormittag auf dich böse geworden, und du bestätigst das« – nur damit sie etwas anzugeben hätten und so loskämen. Aljoscha wußte, dergleichen war in der Tat manchmal vorgekommen. Er wußte ferner, manche in der Brüderschaft waren auch darüber sehr ungehalten, daß dem Brauch gemäß sogar die Briefe, die die Einsiedler von Verwandten erhielten, zuerst dem Starez gebracht wurden, damit er sie öffnete und noch vor den Empfängern las. Der zugrunde liegende Gedanke war natürlich, daß dies alles freiwillig und in aufrichtiger Gesinnung geschehen müsse, von ganzer Seele im Interesse von Demut und Seelenheil; doch in Wirklichkeit unterlief dabei, wie sich herausstellte, manchmal auch viel Unaufrichtigkeit, Verstellung und Falschheit. Aber die Bejahrtesten und Erfahrensten aus der Brüderschaft bestanden auf dieser Einrichtung; sie sagten, für diejenigen, die aufrichtigen Sinnes in diese Mauern eingetreten seien, um ihre Seelen zu retten, erwiesen sich alle diese Übungen im Gehorsam und diese Taten der Selbstverleugnung zweifellos als heilsam und brächten großen Nutzen. Wer sich durch sie beschwert fühle und darüber murre, sei kein richtiger Mönch und sei nur zu Unrecht in das Kloster eingetreten: dessen Platz sei in der Welt. Sich vor der Sünde und dem Teufel zu schützen sei nicht nur in der Welt, sondern auch an heiliger Stätte unmöglich, daher dürfe man gegen die Sünde keine Nachsicht üben.
»Er ist sehr schwach geworden, Schlafsucht hat ihn überkommen«, sagte Vater Paissi zu Aljoscha, nachdem er ihm den Segen erteilt hatte. »Es ist sogar schwer, ihn zu wecken, aber das ist ja auch nicht nötig. Für etwa fünf Minuten ist er vorhin aufgewacht. Er bat, der Brüderschaft seinen Segen zu bringen; sie möchte in der Nacht für ihn beten. Morgen beabsichtigt er noch einmal das Abendmahl zu nehmen. Von dir hat er gesprochen, Alexej. Er fragte, ob du gegangen seist; wir antworteten, du seiest in der Stadt. ›Dazu habe ich ihn auch gesegnet, dort ist einstweilen sein Platz, nicht hier!‹ äußerte er sich über dich. Voll Liebe und Fürsorge gedachte er deiner. Fühlst du auch, welches Vorzuges du gewürdigt worden bist? Warum mag er nur die Bestimmung getroffen haben, daß du einstweilen noch in der Welt sein sollst? Offenbar sieht er etwas in deinem Schicksal voraus? Sei dir bewußt, Alexej, wenn du in die Welt zurückkehrst, darfst du das nur tun als eine dir vom Starez auferlegte Übung im Gehorsam, nicht aber zu irdischem Leichtsinn und weltlicher Freude!«
Vater Paissi ging hinaus. Daß der Starez im Sterben lag, daran bestand für Aljoscha kein Zweifel, obwohl er noch einen oder zwei Tage leben konnte. Trotz seines Versprechens, den Vater, Chochlakows, seinen Bruder