Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. Dahlhaus
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Читать онлайн книгу Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus страница 32
Immer und immer wieder diese Verunsicherung. Abgrundtief, bodenlos. Worauf, auf wen kann ich mich verlassen? Ich kann mich ja nicht auf mich selbst verlassen. Ich nehme mir etwas vor, verabrede mich, will etwas unternehmen – und muss dann spüren, dass meine Kraft nicht reicht. Spüre, wie die Beine weich werden oder zittern.
Ja, zittern, immer diese Angst. Eigentlich macht alles Angst. Mit anderen zusammen sein macht Angst, was wollen sie von mir, kann ich ihnen genügen, lassen sie mich am Ende alleine oder stellen sie mich bloß – oder ich verstehe nicht, was sie wollen oder meinen oder denken – oder ich bekomme dann wieder diese merkwürdigen Zustände, wo ich nichts mehr blicke, rein gar nichts. Dann mache ich verrückte Dinge, sage etwas, was ich nicht sagen will, oder sage gar nichts, weil mir keine Worte einfallen oder keine Gedanken da sind.
Oder wo ich meinen Körper nicht mehr spüre: Sitzen, stehen, alles fühlt sich so fremd an.
Ich habe Angst, mit anderen zusammen zu sein. Aber alleine sein macht auch Angst.
Ich finde kein Vertrauen mehr, zu nichts und niemand. Gerade habe ich Vertrauen zu jemand aufgebaut, bin ich unsicher: Meint es dieser Mensch denn wirklich ernst? Oder verlässt er mich bei nächster Gelegenheit wieder, oder tut mir etwas an – da wende ich mich doch lieber selbst ab, dann habe ich es wenigstens in der Hand – auch wenn es furchtbar ist, dann wieder alleine zu sein und dazu noch seine Enttäuschung zu spüren.
die innere Seite des anderen nachempfinden
Ich halte es für lohnend, immer wieder zu versuchen, die innere Seite des anderen nachzuempfinden, sich im Team darüber auszutauschen – zu versuchen, sich der Innensicht, dem inneren Erleben des anderen anzunähern.
Ein tief verletztes Leben – Einzelfallschilderung
Astrid kam achtjährig von einer Förderschule in eine Schule und ein Heim für sogenannte geistig behinderte Kinder, einen Lern- und Lebensort für seelenpflegebedürftige Kinder und Jugendliche. Von der Gestalt war sie zartgliedrig, für ihr Alter relativ klein, ihr dunkles Haar war dünn und spröde. Sie hatte Ringe unter den Augen, die Schultern hingen herab, als würde sie eine große Last tragen. Der Schritt war schwer. Dabei verfügte sie über eine einfache Sprache, die Artikulation war nicht durchgestaltet. Unmittelbar aber berührte der Blick – eine eigentümliche Mischung aus hoffnungsvoller Bitte um Geborgenheit und angstvoller Distanz, dabei durch eine nicht kindgemäße große Müdigkeit geprägt.
Was stand im Hintergrund? Manches bleibt im Dunkel. Den Unterlagen und Gesprächen konnte ich entnehmen, dass sie mit einem Geburtsgewicht von ca. 2.700 Gramm geboren wurde, wahrscheinlich in der 34. Schwangerschaftswoche (also sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin). Es war eine Kaiserschnitt-Geburt, die wegen beeinträchtigter Herztätigkeit des Kindes erforderlich wurde.
Die Schwangerschaft war belastet. Zum einen durch Nikotin. Dies bedeutet eigentlich ein Doppeltes: Da ist zum einen der Stoff Nikotin, der die Blutgefäße verengen lässt und dadurch insbesondere die Ausgestaltung des hochempfindlichen Gehirnorgans behindert. Aber eine rauchende Mutter bedeutet auch eine Mutter mit mangelnder Fähigkeit, die Bedürfnisse der Leibesfrucht wahrzunehmen. Die Mutter selber wiederum erlitt während der Schwangerschaft schwere körperliche Gewalt durch ihren damaligen Partner. Und mittendrin ein zutiefst ausgeliefertes Kind, auf das all das einwirkte – Nikotin, Gewalt, Angst der Mutter. Trotz allem war die werdende Mutter auch in »guter Hoffnung«, in immer wieder aufkeimender freudig-liebevoller Erwartung des Kindes, das sie trug. Die Dinge sind nie nur schwarz oder weiß.
In den ersten Lebensjahren oblag die Erziehung der überforderten Mutter, die bei wechselnden Partnern Halt suchte und Gewalt fand. Dazwischen ein Kind, das weder die leibliche noch die seelische Ernährung erfahren konnte, derer es bedurft hätte. Die Mutter selbst hatte keinen stützenden familiären Umkreis. In den ersten Lebensjahren Astrids fand eine nur sehr zögerliche Beobachtung durch das Jugendamt statt, keine wirkliche Hilfe auch von dieser Seite. Irgendwann und irgendwie hat Astrid in den frühen Jahren ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erlitten, wahrscheinlich über Jahre. Die Äußerungen und das spätere Gebaren des Kindes waren eindeutig. Viel später konnte sie auch anfänglich etwas von dem Erlittenen erzählen. Also ein früher, schwerer zusätzlicher Einbruch in Körper wie Seele des heranwachsenden Kindes. Mit all dem, mit all diesen prägenden Erfahrungen kam Astrid achtjährig in das Heim.
Die Diagnose, die seinerzeit gestellt wurde, war zum einen ein Zustand nach frühkindlicher Hirnschädigung und zusätzlich eine komplexe Traumatisierung. Letztere umfasste sowohl eine emotionale Traumatisierung – dies beschreibt zum einen eine besondere Form der Verwahrlosung, aber auch einen ausgeprägten Verlust von Fürsorglichkeit – als auch auf diesem äußerst labilen Untergrund eine sexuelle Traumatisierung.
Gerade bei früh, anhaltend und komplex traumatisierten Kindern lässt sich oft schwer nur eine Grenze zwischen den Auswirkungen einer möglichen frühkindlichen Hirnschädigung und den Auswirkungen einer Traumatisierung ziehen. Die Symptome können sich überschneiden. Auch die eingeschränkte kognitive Entwicklung mit leichter Minderbegabung oder ein nur mangelhaft durchdrungenes Bewegungsbild kann durch beide Beeinträchtigungen verursacht sein.
Die relativ ausgeprägte Beeinträchtigung ließ mich hier diese kombinierte Diagnose stellen.
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