Ebbe und Blut. Peter Gerdes
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Die Diskussionsveranstaltung war schon vor Wochen angesetzt worden. Wie viel Windkraft braucht das Land? – Podiumsdiskussion mit Vertretern der Parteien und Interessengruppen. Kulturprogramm: Nanno Taddigs (Lieder und Lyrik). Veranstalter: Initiative für Ostfriesland (IFO).
Zwei bis drei Dutzend Leute höchstens, dachte Sina, mehr wären niemals gekommen. Trotz Nanno. Wenn das nicht gerade heute passiert wäre.
Wie fast alle anderen auch hatte sie aus dem Radio davon erfahren, im Auto, auf dem Weg zu ihrer Mutter, die jetzt ganz allein in Leer lebte. Erst der Sabotageakt an der Windkraftanlage in der Krummhörn, dann das Attentat auf Boelsen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Die vom Radio offenbar auch nicht. Kein Wort von den schematisierten Täter-Vermutungen, die sonst so leichthändig geäußert wurden. Politisch gibt das überhaupt keinen Sinn, hatte Sina überlegt. Ihre Neugier war stetig gewachsen und hatte sie schließlich hergetrieben. Wie wohl alle anderen auch. Dass sie außerdem ein bisschen gespannt auf Nanno war, wunderte sie selbst. Sie blickte sich um. Hier in Leer, an genau dieser Schule, hatte sie vor sieben Jahren Abitur gemacht, in dieser Halle hatte sie ihre Turnstunden absolviert. Alles hier war noch so wie früher, selbst die Flecken im ausgebesserten Putz neben und über der Heizung waren immer noch nicht übergestrichen. Sina lächelte. Und das linke Geräteraum-Tor schloss auch nicht richtig, genau wie früher. Wenn man sich mit der Schulter dranlehnte, wich es zurück, die untere Torkante schwang aus und schlug einem Knöchel und Waden grün und blau. Da, gerade war es wieder passiert. Sina sah den Mann auf einem Bein hüpfen und wandte sich schnell ab, weil sie ihr Grinsen selbst etwas unpassend fand.
Sie schlängelte sich durch das Gewühl, suchte nach bekannten Gesichtern, grüßte ehemalige Lehrer. Direkt vor ihr wurde erregt diskutiert, wollige Pulloverrücken bildeten eine Barriere. Eine schmale, ungeduldig tänzelnde Gestalt löste sich aus dem Kreis, der sich augenblicklich wieder schloss, drehte sich mit vor der Brust verschränkten Armen einmal um sich selbst, blickte wie abwesend über die Köpfe.
Sina strahlte, als sie die Hände ausstreckte: »He, Melli!«
Sie umarmten sich wie früher, als sie in der Oberstufe Tischnachbarinnen gewesen waren: leicht, ohne Druck, eher knochig als fleischig. Sina erinnerte sich noch gut daran, wie sie Melanie jahrelang hofiert, wie sie um ihre Gunst gebuhlt hatte, wie stolz sie gewesen war, als sie endlich neben ihr hatte sitzen dürfen. Freundlich, aber distanziert hatte Melanie auf ihre Herzlichkeit reagiert. Sina hatte diese Ungleichheit in ihrer damaligen Beziehung schnell erkannt, eigentlich von Anfang an. Böse aber war sie Melanie bis heute nicht, auch wenn es in den letzten Jahren praktisch keinen Kontakt mehr zwischen ihnen gegeben hatte. Gräfin Melli hatte sich anhimmeln lassen und die Vorzüge solcher Verehrung gern genossen, aber nie missbraucht. Auch eine Art von Fairness.
Verändert hatte sie sich kaum, sah mit sechsundzwanzig eher noch schöner aus als früher, beinahe unwirklich, fand Sina. Melanie überragte Sinas einsfünfundsechzig um eine gute Spanne, ihr weißblondes, langes Haar umrahmte ein schmales Gesicht, das immer noch völlig frei von Make-up war. Ihre betont rustikale Kleidung – grauweißer Wollpullover, hellblaue Jeans, schwarze Schnürschuhe – ließ sie aristokratischer denn je wirken. Sogar ihr Lächeln sieht huldvoll aus, dachte Sina. Mit ihrer dunkelbraunen Antiklederhose, ihrer Seidenbluse, der Fransenweste und der leichten Rottönung in ihren schulterlangen feinen, kastanienbraunen Haaren kam sie sich unpassend aufgezäumt vor. Warum nur klammert sich der Mensch an Idole, wenn deren Gegenwart doch nur die eigenen Selbstwertmängel ins Licht zerrt? Lust an der Qual? Und wenn schon. Damals hatte sie das nicht so empfunden, und heute stand sie darüber.
Für ihre Verhältnisse war Melanie richtig aufgekratzt, ihre sonst fast weißen Wangen waren leicht gerötet wie von einem Spaziergang im Winterwind. Sina hatte von ihren Problemen mit dem Laden gehört und von den Sorgen um die Kinder, die zwar angeblich hochbegabt, aber schwierig und häufig krank waren. Melli musste unter einem wahnsinnigen Druck stehen. Aber heute war von all dem nichts zu spüren.
»Bist du beruflich hier? Als Journalistin? Extra wegen dieser Sache?« Melanie schien Sinas Kopfschütteln zu übersehen. »Aus ganz Ostfriesland sind Leute gekommen. Ich bin ja mal gespannt, was jetzt passiert. Könnte ein Wendepunkt sein, was die Windkraftnutzung betrifft. Auf jeden Fall können die ja nicht so weiterwursteln wie bisher, sonst eskaliert das hier endgültig.«
»Du bist gegen Windkraft?« Sina war völlig perplex. »Vom Umweltstandpunkt her sind Sonne und Wind zur Energieerzeugung doch das einzig Wahre, dachte ich immer. Hast du das Lager gewechselt, oder was?«
»Überhaupt nicht.« Melanies Gesichtsausdruck wechselte vom Hoheitsvollen ins Missionarische. »Theoretisch stimmt das ja, was du sagst, aber was hier praktisch läuft, ist eine völlig andere Sache. Was uns als Nutzung der Windkraft verkauft wird, ist doch in Wirklichkeit eine Strategie, um sie zu diskreditieren.« Mit Sinas sichtbarem Unverständnis hatte sie eindeutig gerechnet. »Erinnerst du dich noch an Growian? Diese einflügelige Experimental-Anlage. In dieses Projekt wurden damals Millionen an Steuergeldern reingepumpt. Hat natürlich nie richtig funktioniert, logisch. Damit hat man die Forschung jahrelang aufgehalten, verstehst du? Absichtlich! Um zu beweisen, dass Windkraft nichts bringt, während überall die Atomkraftwerke hochgezogen wurden. Ein Flügel! Dabei gibt es Mehrflügler seit Jahrhunderten. Ist das nicht eindeutig?«
Sina hatte von Growian gehört. Dieser Zusammenhang war ihr neu, er klang nicht unlogisch, wenn auch etwas zu einfach. »Aber die modernen Anlagen haben doch drei Flügel, oder? Und sie funktionieren.«
»Sicher.« Melanie blieb geduldig, auf ihre altbekannte Art, die ein wenig verletzend wirkte, ohne dass sich dieser Eindruck zum Vorwurf hätte verdichten lassen. »Aber solange diese Dinger einzeln oder in kleinen Gruppen wahllos überall aufgestellt werden, sind sie für die allgemeine Stromversorgung ohne echte Bedeutung. Sie verschandeln nur die Landschaft und bedrohen die Tiere. Außerdem ist der Strom überteuert und muss von der gesamten Bevölkerung bezahlt werden. Da entsteht Unmut, eine unheimlich breite Ablehnung, verstehst du? Und die richtet sich natürlich gegen die Windkraft selbst. Das meine ich mit diskreditieren. Gerade hier in Ostfriesland ist das besonders drastisch. Wenn dieser Unfug nicht schnellstens abgestellt wird, dann ist die Windkraftnutzung hierzulande unten durch, und zwar auf Jahrzehnte hinaus.«
Einen Moment lang hatte Sina die Vision einer heiligen Melanie mit Brustpanzer, Krempenhelm und Breitschwert, mehr Karikatur als Idol. Konnte es sein, dass Melanie, einst eine Verfechterin der Gewaltfreiheit, die beiden Attentate befürwortete? Sina spürte, wie ihre Augenbrauen aufeinander zukrochen und dabei ihre Stirnhaut zu einer steilen Doppelfalte zusammenschoben.
»Dieser Anschlag auf Boelsen war absolut hinterhältig. Heimtückisch. Furchtbar. Dabei ist der doch nur einer, der die Situation ausnutzt. Kein wirklicher Verursacher.« Ganz offensichtlich war Melanie immer noch eine exzellente Beobachterin. Da hätte ich sie auch gleich fragen können, dachte Sina. Die Frage nach Melanies Einstellung zu Gewalt gegen Sachen aber sparte sie sich für einen späteren Zeitpunkt auf.
Das bislang ziellose Getümmel begann sich plötzlich auszurichten, so wie sich Eisenspäne formieren, wenn sich ein Magnet nähert. Alles schaute zum Eingang. Dort nahm das Gewühl erst zu, dann bildete sich eine Gasse, durch die jetzt Eilert Iwwerks samt Gefolge Richtung Podium schritt. Einige Schritte dahinter gingen Kornemann und Boelsen. Als Dreifach-Magnet betraten sie die Bühne. Langsam rückte die Menge vor, die Gespräche erstarben für einen Moment, setzten aber gedämpft wieder ein, als sich herausstellte, dass vorerst noch an der Mikrophonanlage gebastelt wurde.
Boelsen schien nicht ernsthaft verletzt zu sein; nur hinten an seinem Hals, unterhalb des Haaransatzes, waren Pflaster zu erahnen. »Der neben ihm ist Kornemann«, raunte Melanie. »Dem gehören wesentlich mehr Bowindra-Anteile als Boelsen selbst. Ich glaube,