Der wilde Weg der Honigbienen. Christoph Nietfeld
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Ein wesentlicher Unterschied zwischen wilden, Varroaresistenten Völkern und bewirtschafteten Bienenvölkern ist sicherlich auch die räumliche Distanz zueinander. Nach Untersuchungen von Thomas D. Seeley hat die Nähe der Völker zueinander unmittelbare Auswirkungen auf die Milbenentwicklung. Demnach landen bei dicht nebeneinander aufgestellten Bienenvölkern, wie es in der Imkerei üblich ist, nach jedem Flug zwanzig Prozent der Sammlerinnen im falschen Bienenstock. Da eine Sammlerin mehrmals am Tag unterwegs ist, sitzen am Abend mehr als achtzig Prozent der Bienen im falschen Bienenstock. Ein entsprechender Versuch mit unmittelbar nebeneinander aufgestellten und im Vergleich dazu mit Abstand aufgestellten Bienenvölkern hatte gezeigt, dass die dicht aufgestellten Völker ohne Behandlung gegen die Varroamilbe starben und die mit Abstand aufgestellte Gruppe mit Varroapopulationen unter der kritischen Grenze überlebte.30 Der Abstand zwischen den Völkern der mit Abstand zueinander aufgestellten Gruppe betrug 21 Meter bis 75 Meter.34 Der Effekt des Verfluges war mir bekannt, denn wenn ich mehrere Bienenvölker in eine Reihe stellte, entwickelten sich die äußeren zu den größten Völkern – auch wenn dies nicht nur für den Verflug der Bienen, sondern auch dafür sprechen könnte, dass Bienen die äußeren Beuten in einer Reihe bevorzugen. Aber dass es so viele Bienen sind, die tagtäglich in den falschen Bienenstock fliegen, hatte mich überrascht. Natürlich findet auf diese Weise eine Übertragung der Milbe in andere Völker statt.
Je mehr ich herausfand, desto weiter wandelte sich meine zeitweise Resignation in die fühlbare Lebendigkeit (m)eines oder unseres „Herzensweges“ MIT den Bienen. Es gab scheinbar Gründe genug, um mich nicht entmutigen zu lassen und an meiner Idee festzuhalten, den Bienen ein natürliches Heim zu bauen, in dem sie ungestört leben durften. Ich frage mich, warum immer noch gegen die Varroamilbe behandelt wird, obwohl es so viele Beispiele gibt, die zeigen, dass es auch ohne geht. Wahrscheinlich ist grundsätzlich die Umstellung von einer intensiven Imkerei zu einer weniger intensiven Imkerei, bei denen den Bienen mehr Raum gelassen wird, die Herausforderung. Wenn der Mensch Bienen so „bewirtschaftet“, dass die Bienenkraft allein in den Honig geht, den man ihnen mehrfach wegnimmt, ohne etwas Gleichwertiges hinzuzugeben, dann fehlt ihnen diese Kraft. Das wirkt sich auf die Vermehrung und Gesamtgesundheit der Bienen aus. Den genannten Untersuchungen, die zeigen, dass die Bienen sich gegen die Varroamilbe behaupten können, steht eine Mehrzahl an Versuchen gegenüber, die eine andere Sprache sprechen. Hierbei müssen wir jedoch berücksichtigen, dass es auch vorkommt, dass aus Sicht der Biene positive Ergebnisse nicht immer auch positiv für die Honig-Imkerei sind, weil z. B. die Honigerträge sinken. So gesehen müssen wir vor jedem Versuch die Frage der Perspektive stellen: Wird der Versuch aus Sicht der Biene oder aus Sicht der Honigproduktion betrachtet? Aus meiner Sicht wird der Großteil der Versuche aus Sicht der Imkerei mit dem Ziel der Honiggewinnung durchgeführt und bewertet. Der reduzierte Blickwinkel und die daraus resultierenden, zu kurz greifenden Handlungen führen häufig zu dem Ergebnis, dass die Bienen nicht ohne eine Behandlung gegen die Varroamilbe auskommen. Aus diesem Grund hat sich in unseren Köpfen vermutlich auch die Meinung manifestiert, dass Bienen ohne die Hilfe eines Imkers zwangsläufig sterben. Versuche, die die Bekämpfung der Varroamilbe zum erklärten Ziel haben und dabei darauf abzielen, den Schaden für die Honig-Imker möglichst gering zu halten, schaffen für die Bienen – und das fällt beim genauen Hinsehen auf – Bedingungen, die sich negativ auf ihre Kräfte auswirken. Kräfte, die der Biene helfen, sich selbst gegen die Varroamilbe zur Wehr zu setzen. Wie oben beschrieben, wird während der Varroabehandlung das Mikroklima – nicht nur im Brutnest – massiv gestört; die Kästen werden zur Kontrolle aufgemacht und teilweise sogar Brutwaben herausgenommen. Häufig werden auch Brutzellen geöffnet und unzählige ungeborene Bienen entnommen, um zu sehen, ob auf ihnen Milben leben. Diese Bienen sterben. Eine Überwinterung auf Honigersatz, wie zum Beispiel Zuckerwasser, sowie imkerliche Maßnahmen wie die Unterdrückung des Schwarmtriebes bedeuten zusätzlich enormen Stress und fehlende Regenerationsmöglichkeit für die Bienen. Wie sollen sie die nötige Ruhe und Kraft finden, um sich gegen die Milbe zur Wehr zu setzen, wenn sie ständig viel größeren Problemen ausgesetzt werden?
Die Zusammenhänge sind komplex. Man stelle sich nur einen Aspekt vor: Wenn die Bienen zum Beispiel damit beschäftigt sind, das richtige Mikroklima im Brutnest wiederherzustellen, damit die Brut am Leben bleibt, hat das sicher Vorrang vor anderen Arbeiten, wie zum Beispiel dem Putzen und damit dem Ausräumen der mit Milben befallenen Brut. Nachdem man die Biene auf unterschiedliche Weise all ihrer Kraft beraubt hat, die sie für ihr eigenes Vorgehen gegen die Varroamilbe gebrauchen könnte, steht das Ergebnis des jeweiligen Ansatzes fest: Ohne eine Behandlung gegen die Milbe sterben die Bienen. Das ist in etwa so abstrus, als würde ich meinem Sohn beim Versuch, Laufen zu lernen, die Beine zusammenbinden und am Ende sagen: „Seht ihr, er kann es nicht!“ Für mich wird die Frage vernachlässigt, welche eigenen Möglichkeiten die Biene hat, um gegen die Milbe vorzugehen, und ob sie durch die Anwendungen und Eingriffe eventuell beeinträchtigt werden könnte. Aus dem aktuell üblichen Blickwinkel durchgeführte Versuche zeigen oder untermauern ein Bild davon, dass die Bienen sich nicht selbst durchsetzen könnten. Und so lautet die Empfehlung weiterhin, gegen die Varroamilbe zu behandeln. Was wir brauchen, um einen Wandel anzuregen, ist das grundsätzliche Vertrauen in die Kraft des natürlichen Prozesses und eine entsprechende Demut ihr gegenüber. Und wie bereits zu Beginn dieses Kapitels dargestellt, ist es nicht ganz so einfach, weil die Bienen nicht primär an der Milbe sterben, sondern an den Viren, die die Milben überträgt. Dementsprechend lautet die gängige Formel: weniger Milben = weniger Viren. Deshalb wird Jagd auf Milben gemacht. Die Viren, die durch die Milbe übertragen werden, sind aber nicht neu, lediglich der Übertragungsweg durch die Milbe führt häufiger dazu, dass Symptome der Viren auftreten, zum Beispiel deformierte Flügel.35 Aber was ist, wenn die Eingriffe zur Bekämpfung der Varroamilben das Immunsystem der Biene so massiv schwächen, dass plötzlich auch eine Ansteckung zwischen den Bienen untereinander stattfindet, sodass ein Volk innerhalb kurzer Zeit zusammenbricht? Die Frage dürfte vielleicht doch stattdessen lauten: Was können wir tun, um die Bienen zu stärken und sie nicht in ihren natürlichen Abläufen zu „stören“?
Schlussendlich führen alle Manipulationen, sei es zum Zwecke der Honiggewinnung oder zur Bekämpfung der Varroamilbe zu einer Störung des natürlichen Selektionsdruckes. Bliebe dieser ungestört, könnte er über kurz oder lang zu einem verträglichen Verhältnis zwischen Wirt und Parasit führen. Bei der Tagung zur Varroatoleranz im Jahr 2016 bei der Fischermühle merkte der Bienenwissenschaftler Wolfgang Ritter, Leiter der Abteilung Bienenkunde am Tierhygienischen Institut in Freiburg, dementsprechend kritisch an, dass 1978 ein falscher Entscheid gefällt worden sei, an dem auch er mitgewirkt habe. In jenem Jahr wurde beschlossen, die Varroamilbe zu bekämpfen.36 Letztlich kann unsere Motivation oder Vision sein, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zwar zu berücksichtigen, aber nicht auf das Hinzuziehen des eigenen Gespürs zu verzichten und MIT den Bienen zusammenzuarbeiten – und „dranzubleiben“, auch wenn erst mal anderes „passiert“.
Die Bienen wissen es besser. Der Mensch greift in ein (Öko-)-System ein, das er, wenn wir ehrlich sind, nicht einmal ansatzweise versteht. Doch damit die Bienen in der Lage sind, sich selbst zu helfen, dürfen wir ihnen wieder die nötigen äußeren, natürlichen Rahmenbedingungen schaffen, die ihnen zustehen. Martin Dettli schrieb in den Schlussgedanken zu seinen Untersuchungen zur Bienenhaltung ohne Varroabehandlung: „Die Acarpismilbe war bis 1970 ein gefürchteter Parasit, welcher ebenso massiv behandelt wurde wie die Varroamilbe heute. Dann hat sie ihren Schrecken verloren und heute ist sie kein Thema mehr. Niemand hat je geklärt, was da geschehen ist.“37 Ist es nicht ziemlich überheblich von uns Menschen, zu behaupten, dass die Biene auf unsere Hilfe angewiesen sei? Was sie braucht, ist Raum, um ihren natürlichen