Altern wird heilbar. Nina Ruge
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Evolutionstheorie – die Erste
Doch auch schon CHARLES DARWIN rätselte, wieso es dann einen komplexen, multifaktoriellen Alterungsprozess geben müsse, zum Teil über Jahrzehnte hinweg. Der hochkomplexe Vorgang des Alterns – welchen biologischen Sinn sollte der haben? Außerdem gibt es Arten, die altern nur minimal: Ein Schwamm, den Forscher in der Antarktis entdeckt haben, lebt seit 10.000 Jahren. Der Felsenbarsch wird 250 Jahre alt – ohne gebrechlich zu werden. Der afrikanische Nacktmull übertrifft in seiner Lebenserwartung sämtliche seiner Verwandten – nämlich Nagetiere wie Hamster und Mäuse – um das bis zu Dreizehnfache (während andere kleine Nager nur rund zwei Jahre leben, bringt er es auf bis zu 26 Jahre). Was hat sich die Evolution denn bitteschön dabei gedacht?
Offenbar gar nicht so viel. Wer einmal auf Safari in Afrika war, hat sicher das brutale System von Fressen und Gefressenwerden blutig in Erinnerung. Ich (Nina) werde nie vergessen, wie sich in Botswana ein Leopard an eine Familie von niedlichen Warzenschweinen heranpirschte. Den weiteren Verlauf des Gemetzels habe ich dann nicht mehr anschauen wollen. Wer nicht morgens um halb fünf auf Tour gehen will, um dann stundenlang in der Savanne auf eine Wildtierbegegnung zu warten (oft auch vergeblich), der kann sich das Prinzip des Fressens und Gefressenwerdens in schauerlichen TV- oder Streaming-Dokumentationen zu Gemüte führen. Ich Zartbesaitete halte das multiple Töten jedoch nicht aus.
Außerhalb der weitgehend geschützten Lebensräume des Menschen schafft es kaum eine Art, überhaupt in die Nähe der genetisch programmierten maximalen Lebensspanne zu gelangen. So gut wie alle sterben weit vorher den Katastrophentod. Das hört sich fürchterlich an, ist aber in der freien Wildbahn völlig normal. Fressfeinde, Unfälle, Krankheiten. Meist kommt der Nachwuchs noch nicht mal ins fortpflanzungsfähige Alter. Wieso dann spezielle Mechanismen der Alterung entwickeln? Das braucht es doch gar nicht. Deshalb lässt die Natur – genauer gesagt, die Evolution – einfach zu, dass die Reparaturmechanismen der Gene nur auf eine bestimmte Zahl von Reparaturvorgängen ausgelegt sind. Mit den Jahren häufen sich dann die schädlichen Mutationen an, weil die Reparatursysteme nicht nachkommen. In der Wildbahn wird ein so beeinträchtigtes Tier – dessen Nieren vielleicht nicht mehr richtig wollen – dann sowieso vom Feind vernichtet. Diese stichhaltige Abbaustrategie in Eigenregie trägt den attraktiven Namen »Mutations-Akkumulations-Theorie«.
Sie wird ergänzt durch die sogenannte »antagonistische Pleiotropie« (1957 von GEORGE C. WILLIAMS entwickelt). Darunter versteht man einen Mechanismus der Selbstzerstörung, der eine gewisse Tragik aufweist: Nehmen wir das Beispiel des menschlichen Testosterons oder Östrogens. Mutationen, die zu einer höheren Produktion dieser Hormone führen, machen ja erst einmal richtig etwas her: Potentere Männer, kurvigere Frauen, um es platt zu formulieren. Im Evolutionsjargon gesprochen bringt das »Fortpflanzungsvorteile«. Tragischerweise können erhöhte Hormonspiegel im Alter allerdings höchst schädlich sein. Prostatakrebs oder Brustkrebs können die Folge sein. Pleiotrope Gene sind also Gene, die in der Fortpflanzungsphase Vorteile bieten, nach dieser Phase sich aber äußerst ungut auswirken können. Da es in der Evolution aber nur auf gelungene Fortpflanzung ankommt und nicht auf gesundes Altern, sind pleiotrope Gene (nicht nur beim Menschen) evolutionär gesehen förderlich – und tödlich. So werden sie im Erbgut locker mitgeführt. Oder mit anderen Worten: Was junge Lebewesen sich optimal fortpflanzen lässt, kostet sie viele Jahre später vielleicht das Leben.
Evolutionstheorie – die Zweite
Also: Die klassische Evolutionstheorie des Alterns kann vieles erklären, aber eine Frage bleibt offen: Weshalb gibt es so viele Arten, einschließlich die menschliche, bei denen sich die Natur den Luxus leistet, sie auch dann noch gesund weiterleben zu lassen, wenn sie schon längst unfruchtbar geworden sind?
Ein amerikanischer Forscher wartet hier mit der »Großmutter-Theorie« auf und zeigt, dass die Fixierung auf die Fortpflanzungsphase allein eindeutig zu kurz greift. Viele Lebewesen investieren nämlich nicht nur in die Geburt ihrer Kinder, sondern auch in deren Aufzucht. Und genau hier kommen nach RONALD D. LEE von der University of California, Berkeley, die älteren Generationen zurück ins evolutionäre Spiel: Je intensiver die Senioren an der Aufzucht von Jungtieren beteiligt sind, desto eher wird deren Lebensspanne über das reine Fortpflanzungsalter hinausreichen.
Und das muss nicht einmal die eigenen Kinder betreffen. Von den bekanntesten Delfinen, den Großen Tümmlern, weiß man etwa, dass die Großmütter ihre Enkel nicht nur beaufsichtigen und beschützen, sondern sogar säugen. Und aktuelle anthropologische Studien weisen zum Beispiel darauf hin, dass in bestimmten afrikanischen Pygmäen-Gesellschaften durchschnittlich elf – vor allem ältere – Personen den Eltern bei der Kindererziehung zur Hand gehen.
So weit, so knapp die Evolutionstheorien des Alterns. Sie lassen uns sozusagen aus der Perspektive der Jahrtausende das Prinzip des Werdens und Vergehens nachvollziehen und sind nach wie vor relevant. Oder um mit HERMANN HESSEs Urmutter Gaia zu sprechen: »Ihr spielender Finger schreibt in die flüchtige Luft unsere Namen.« Das Prinzip verstehen wir ja. Nur das Prinzip des Werdens und Vergehens bringt die unfassbare Vielfalt der Natur hervor – und bringt sie weiter. Das lehrt uns Demut, hilft uns aber noch nicht, die Details des Selbstzerstörungsprogramms zu begreifen, das »Altern« heißt.
Von den Schadenstheorien
Fragt man allerdings nicht nach den evolutionären (mit der Frage »Wozu?«), sondern nach den genetischen und physiologischen Ursachen des Alterns (mit der Frage »Wie?«), dann lauten die Antworten freilich ganz anders. Hier möchten die sogenannten »Schadenstheorien« Abhilfe schaffen. Sie erklären den Alterungsprozess gewissermaßen als sich selbst aufbauende Müllhalde: Mit den Jahren sammeln sich mehr und mehr schädliche Stoffwechselprodukte in unseren Zellen, Geweben und Organen an – und nicht nur das. Zugleich wimmelt es in uns nur so von Abnutzungs- und Zerstörungsprozessen. Wir sagten ja eingangs: Sie müssen stark sein beim Lesen dieses Kapitels …
»Abnutzung« und »Verschleiß« als Ursache des Alterns anzunehmen, ist natürlich naheliegend und hat MAX RUBNER schon 1908 zu einer wegweisenden Überlegung geführt: Je schneller der Puls, je höher also der Stoffwechsel eines Organismus läuft, desto kürzer die Lebenserwartung. Heißt: Wer »an zwei Enden gleichzeitig brennt«, stirbt früher. Dazu kam die Beobachtung, dass Taufliegen deutlich länger lebten, wenn die Umgebungstemperatur gesenkt wurde und damit der Stoffwechsel langsamer lief. Ähnliches war zu beobachten, wenn Organismen auf strenge Diät gesetzt wurden. Der Stoffwechsel fährt runter – die Lebensspanne steigt.
Die Lebensrhythmus-Theorie
Aus diesen Erkenntnissen entwickelte der US-Altersforscher RAYMON PEARL die »Rate-of-Living-Theorie«. Die »Lebensrhythmus-Theorie des Alterns« sah also den Organismus sozusagen als ein Behältnis voller Zellbestandteile etc. an – und je schneller der Stoffwechsel liefe, desto schneller würden diese Zellbestandteile beschädigt oder zerstört. Er ging sogar so weit zu behaupten, dass ein Individuum nur eine streng limitierte Zahl von Herzschlägen zur Verfügung hätte. Seien diese »verbraucht«, wäre Schluss. So naiv das zunächst klingen mag, es scheint etwas dran zu sein. Je schneller der Stoffwechsel, desto schneller der Alterungsprozess.