Der verschollene Herondale. Robin Wasserman

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Der verschollene Herondale - Robin Wasserman Legenden der Schattenjäger-Akademie

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geben, müssen wir vielleicht nicht ewig warten, bis du endlich zu uns aufschließt.«

      Simon war zu erschöpft für eine schlagfertige Antwort. Und definitiv zu erschöpft, um die Wand hinaufzukraxeln, deren einzelne Griffe unfassbar weit voneinander entfernt waren. Er schaffte ein paar Meter und legte dann eine Pause ein, um seinen brennenden Muskeln einen Moment Ruhe zu gönnen. In der Zwischenzeit kletterte ein Schüler nach dem anderen an ihm vorbei, scheinbar mühelos und nicht im Geringsten außer Atem.

      »Sei ein Held, Simon«, murmelte Simon bitter und erinnerte sich an das Leben, das Magnus Bane ihm in Aussicht gestellt hatte, damals bei ihrer ersten Begegnung – oder zumindest bei der Begegnung, die Simon als ihre erste in Erinnerung hatte. »Bestehe unglaubliche Abenteuer, Simon. Wie wär’s zum Beispiel damit: Verwandle dein Leben in ein endloses, qualvolles Fitnesstraining!«

      »Äh, Kumpel, du redest schon wieder mit dir selbst.« George Lovelace, Simons Mitbewohner und einziger echter Freund an der Akademie, zog sich neben ihm hoch. »Pass auf, sonst verlierst du noch den Halt.«

      »Ich rede mit mir selbst und nicht mit kleinen grünen Marsmännchen«, stellte Simon klar. »Soweit ich weiß, hab ich noch alle Sinne beisammen.«

      »Nein, ich meine …« George deutete mit dem Kopf auf Simons verschwitzte Finger, die vor lauter Anstrengung bleich und blutleer wirkten. »… deinen Halt.«

      »Ach so. Keine Sorge, mir geht’s bombig«, versicherte Simon. »Ich wollte euch nur etwas Vorsprung geben. Denn in Kampfsituationen werden doch immer die Rothemden vorgeschickt, oder?«

      George runzelte die Stirn. »Rote Hemden? Aber unsere Kampfmontur ist doch schwarz.«

      »Nein, Rothemden. Redshirts. Kanonenfutter. Star Trek. Raumschiff Enterprise. Klingelt da bei dir vielleicht irgendetwas …?« Simon seufzte, als er Georges verständnislose Miene sah. Sein Mitbewohner war zwar in einer entlegenen Ecke Schottlands aufgewachsen, aber das bedeutete nicht, dass er ohne Fernsehen und Internet hatte auskommen müssen. Soweit Simon das beurteilen konnte, lag das Problem vielmehr darin, dass die Familie Lovelace nichts außer Fußball geguckt und ihren WLAN-Anschluss hauptsächlich dafür genutzt hatte, die Fußballstatistiken von Dundee United abzurufen und gelegentlich eine Tonne Schaffutter zu bestellen. »Vergiss es einfach. Mir geht’s gut. Wir sehen uns oben«, erwiderte er.

      George zuckte die Achseln und kletterte weiter. Simon sah zu, wie sich sein Mitbewohner – ein gebräunter, muskulöser Typ, der locker auch als Model für Abercrombie & Fitch durchgegangen wäre – so mühelos an den Klettergriffen in die Höhe schwang wie Spider-Man. Es war einfach absurd: George war noch nicht mal ein Schattenjäger, jedenfalls nicht von Geburt. Eine dämonenjagende Familie hatte ihn adoptiert, was bedeutete, dass er genau wie Simon ein Irdischer war. Nur mit dem Unterschied, dass er wie die meisten Irdischen an der Akademie – und ganz im Gegensatz zu Simon – ein fast perfektes Exemplar der Spezies Mensch darstellte: Abartig sportlich, mit hervorragender Koordination, stark und schnell. Er war einem Schattenjäger so ähnlich, wie man es ohne das Blut des Erzengels in den Adern nur sein konnte. Mit anderen Worten: eine Sportskanone.

      Dem Alltag an der Schattenjäger-Akademie mangelte es an vielen Dingen, von denen Simon früher geglaubt hatte, dass er ohne sie nicht überleben konnte: Computer, Musik, Comics, Innentoiletten. Während der vergangenen Monate hatte er sich fast schon daran gewöhnt, aber es gab eine Sache, deren völlige Abwesenheit er einfach nicht verstehen konnte.

      An der Schattenjäger-Akademie gab es keine Nerds.

      Simons Mutter hatte ihm einmal erzählt, was ihr am meisten an der jüdischen Religion gefiel: die Tatsache, dass sie an jedem beliebigen Ort auf der Welt eine Synagoge betreten und sich gleich wie zu Hause fühlen konnte. Egal ob in Indien, Brasilien, Neuseeland oder sogar auf dem Mars – sofern man Shalom, Spacemen! vertrauen durfte, dem selbst gebastelten Comicbuch, das den Höhepunkt von Simons Religionsunterricht in der dritten Klasse gebildet hatte. Juden in aller Welt beteten in derselben Sprache, mit derselben Intonation und denselben Worten. Simons Mutter (die übrigens noch nie in ihrem Leben den Großraum New York verlassen hatte, geschweige denn im Ausland gewesen war) hatte ihrem Sohn erzählt: Solange es ihm gelang, Menschen zu finden, die die Sprache seines Herzens sprachen, würde er nie allein sein.

      Und sie hatte recht behalten. Sobald Simon Menschen fand, die seine Sprache sprachen – die Sprache von Dungeons & Dragons und World of Warcraft, die Sprache von Star Trek und Mangas und von Indierockern mit Songs wie »Han Shot First« und »What the Frak« –, fühlte er sich sofort wie zu Hause.

      Aber diese Schattenjägerschüler … die meisten dachten bei »Manga« wahrscheinlich an eine Art Dämonenfußpilz. Simon gab sich zwar alle Mühe, sie mit den schönen Dingen des Lebens vertraut zu machen, aber Jungs wie George Lovelace konnten mit zwölfseitigen Würfeln in etwa so viel anfangen wie Simon mit … na ja, eigentlich allem, was körperlich anspruchsvoller war als laufen und gleichzeitig Kaugummi kauen.

      Genau wie Jon vorhergesagt hatte, war Simon der Letzte an der Kletterwand. In der Zeit, in der die anderen bis nach oben geklettert waren, dort die winzige Glocke geläutet und sich wieder abgeseilt hatten, hatte Simon es gerade mal bis in zehn Meter Höhe geschafft. Bei seinem letzten Versuch hatte Scarsbury, der ein beachtliches Talent zum Sadismus besaß, die gesamte Klasse zusammengerufen und zusehen lassen, wie Simon sich mühevoll bis ganz nach oben gequält hatte. Dieses Mal brach ihr Ausbilder die Tortur jedoch glücklicherweise vorzeitig ab.

      »Das reicht!«, rief Scarsbury und klatschte in die Hände. Simon fragte sich, ob es so etwas wie runengezeichnete Trillerpfeifen gab. Vielleicht konnte er Scarsbury ja eine zu Weihnachten schenken. »Lewis, erlöse uns alle von unserem Leid und komm runter. Ihr anderen: Geht rüber zur Waffenkammer, sucht euch ein Schwert und bildet Zweiergruppen für das Training.« Scarsburys eiserner Griff schloss sich um Simons Schulter: »Nicht so eilig, du Held. Du bleibst schön hier.«

      Betroffen fragte Simon sich, ob dies nun das Ende war … der Moment, in dem seine heldenhafte Vergangenheit von seiner unrühmlichen Gegenwart endgültig überschattet wurde und man ihn von der Schule wies. Doch dann rief Scarsbury noch weitere Namen auf – darunter auch Lovelace, Cartwright, Beauvale und Mendoza. Fast ausschließlich Schattenjäger und ausnahmslos die besten Schüler der jeweiligen Klassen. Erleichtert atmete Simon auf und entspannte sich, zumindest ein klein wenig: Was auch immer Scarsbury ihnen mitzuteilen hatte, es konnte nicht so schlimm sein. Jedenfalls nicht, wenn seine Worte auch an Jon Cartwright gerichtet waren, den Goldmedaillengewinner im Speichellecken.

      »Hinsetzen«, forderte Scarsbury donnernd.

      Die Gruppe ließ sich auf dem Holzboden nieder.

      »Ihr seid hier, weil ihr zu den zwanzig vielversprechendsten Schülern der Akademie gehört«, verkündete Scarsbury und hielt einen Moment inne, damit auch allen die Bedeutung dieses Kompliments bewusst wurde. Die meisten Schüler strahlten.

      Simon wäre dagegen am liebsten im Boden versunken. Eher neunzehn der vielversprechendsten Schüler der Akademie und einer, der noch immer von den Errungenschaften seiner Vergangenheit profitierte, dachte er. Plötzlich fühlte er sich wieder wie ein Achtjähriger, der zufällig mitbekam, wie seine Mutter den Trainer der Little League unter Druck setzte, damit der ihrem Sohn endlich auch mal einen Baseballschläger in die Hand drückte und ihn ans Schlagmal ließ.

      »Da draußen läuft ein Schattenweltler herum, der gegen das Gesetz verstoßen hat und um den wir uns kümmern müssen«, fuhr Scarsbury fort, »und die da oben haben beschlossen, dass dies die perfekte Gelegenheit ist, um aus euch Chorknaben echte Männer zu machen.«

      Marisol Rojas Garza, eine dürre dreizehnjährige Irdische mit einem ständigen Pass-bloß-auf!-Ausdruck

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