Jetzt stark werden!. Anke Precht

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Jetzt stark werden! - Anke Precht

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Grenze zwischen beiden Partnern, kommunizieren sie womöglich bereits über Wochen nur noch übers Telefon oder Internet. Nähe und gegenseitige praktische Unterstützung sind nicht mehr da, die intensiven Veränderungen, die gerade jeder der Partner durchmacht, können nicht direkt geteilt werden. Auch Partnerschaften, die vorher stabil waren, können sich dadurch stark verändern.

      Während Elternteile, die im Ausland arbeiten, über Wochen nicht zu ihren Familien können, sitzen andere Paare, die das nicht gewohnt sind, plötzlich rund um die Uhr aufeinander, vielleicht sogar in einer sehr kleinen Wohnung, in der sie sich nicht einmal vorübergehend aus dem Weg gehen können. Was für manche beglückend sein kann, führt bei anderen zu Reibereien und Konflikten. So oder so müssen Paare sich intensiver auseinandersetzen oder finden. Die Krise verändert Partnerschaften und fordert sie heraus.

       Menschen sterben anders, Abschied ist schwer

      932 272 Menschen sind laut dem Statistischen Bundesamt 2017 in Deutschland gestorben. Bei etwa gleichbleibenden Zahlen wären das heute im Schnitt 2500 Menschen pro Tag. Einige davon sterben an Covid-19, die meisten an anderen Ursachen.

      Verluste sind die häufigsten Auslöser für Krisen. Was in der aktuellen Krise aber besonders schwer wiegt, ist, dass vieles, was das Abschiednehmen und das Trauern einfacher macht, oft gerade nicht möglich ist.

      Die meisten Menschen wünschen sich, im Kreis der Menschen zu sterben, die sie lieben. In Wirklichkeit stirbt aber jeder zweite Mensch im Krankenhaus. Durch die aktuellen Einschränkungen ist dabei in den meisten Häusern die Begleitung von Angehörigen nicht erlaubt – und zwar unabhängig davon, ob jemand einer Covid-19-Infektion erliegt oder nach einem Schlaganfall oder einem Unfall ins Krankenhaus kam.

      Menschen können sich nicht voneinander verabschieden, letzte Wünsche werden nicht mehr geäußert, versöhnende Worte am Sterbebett sind nicht mehr möglich. Das macht die Verarbeitung eines Verlustes noch schwerer. Und erschwert Sterbenden das Loslassen. Diese Verluste sind vergleichbar damit, was bisher geschehen ist, wenn jemand völlig unerwartet durch einen Unfall oder durch Suizid aus dem Leben gegangen ist.

       Politische Umwälzungen

      Was für viele Menschen vor wenigen Wochen noch nicht vorstellbar war, ist heute fast »normal«: Neue Gesetze werden im Eiltempo beschlossen und durch das Infektionsschutzgesetz auch Grundrechte eingeschränkt. Während das für einige beruhigend ist, sehen sich andere Menschen einer beängstigenden Situation gegenüber.

      Gleichzeitig kooperieren plötzlich Gruppierungen und Parteien miteinander, die sich noch vor Kurzem öffentlich bekämpft haben, und Kräfteverhältnisse verschieben sich.

       Bewährte Bewältigungsstrategien können nicht genutzt werden

      Für die meisten Menschen ist die Corona-Krise nicht die erste Krise. Das bedeutet: Wir besitzen schon Strategien, die wir nutzen können, wenn unser Leben aus den Fugen gerät.

      In Krisen geht zuerst das Gefühl von Sicherheit verloren. In solchen Situationen finden sich Menschen immer in Gruppen zusammen, um gemeinsam zu handeln, sich zu trösten und zu unterstützen. Das ist einer der zentralen biologischen Bewältigungsmechanismen. Dass in einer Zeit höchster Not eine 30-Jährige 400 Kilometer fährt, um bei ihrer Mutter eine Tasse Milch mit Honig zu trinken, ist so gesehen völlig normal. Es hilft ihr dabei, innerlich zur Ruhe zu kommen und sich wieder sicher und geborgen zu fühlen. Im zweiten Schritt wird dann auch klarer, wie es weitergeht. Genau dieses Nähe-und-Schutz-Suchen ist jetzt aber oft unmöglich. Der natürlichste menschliche Impuls zur Krisenbewältigung: blockiert.

      Andere suchen in einer Krise erst einmal die Einsamkeit, wo sie ihre Gedanken sortieren können. Sie laufen stundenlang am Strand, wandern auf einen hohen Berg, beten in einer einsamen Kapelle, setzen sich der Natur aus oder verbinden sich mit ihr. Auch das ist in vielen Bundesländern gerade nicht möglich – und in vielen Staaten überall auf der Welt komplett verboten. Wer aufgrund einer Infektionsgefahr in Quarantäne ist, darf nicht einmal aus dem eigenen Zimmer heraus.

      Auch wer in Krisen Halt in seiner Glaubensgemeinschaft findet, ist aufgrund der Kontaktsperren daran gehindert. Gottesdienste finden erst einmal nicht statt, gemeinsames Beten, so wie man es kennt, ist nicht möglich.

      Wir müssen also in der aktuellen Corona-Krise ganz neue Strategien zur Bewältigung finden. Das ist eine Situation, wie es sie in der Geschichte der Krisen so noch nie gegeben hat.

       Fast alle Menschen erleben die Krise zeitgleich

      Es ist hilfreich, sich in einer Krise mit Menschen zu verbinden, die stabil sind und von ihrer Stabilität etwas vermitteln und abgeben können. Auf diese Weise kann ein krisengeschüttelter Mensch bei einem guten Freund ein paar Stunden »heile Welt« tanken. Das tut gut und bietet eine Pause zum Durchatmen.

      Durch die Vielfältigkeit der Veränderungen in der Corona-Situation sind aber jetzt sehr viele Menschen gleichzeitig in eine Krise geraten. Wenn sie sich treffen, kann es passieren, dass sie sich gegenseitig in noch größere Sorge bringen, indem die Gespräche sich überwiegend um das Virus und alle Nebenschauplätze drehen. Dann gehen alle Beteiligten noch wackeliger aus einer Begegnung, anstatt im gemeinsamen Sein wieder zu Ruhe und Vertrauen zu finden.

      Die Situation ist vergleichbar mit den Erfahrungen, die unsere Eltern oder (Ur-)Großeltern in Kriegszeiten gemacht haben. Jeder ist von gravierenden Veränderungen betroffen, die meisten Menschen befinden sich in der Phase der Verdrängung oder im Ausnahmezustand und können deshalb keine echte Stabilität weitergeben.

       Ungewisse Entwicklung

      Es ist nach Ostern, während ich das hier schreibe. Die Corona-Krise dauert schon einige Wochen an. Noch ist vollkommen ungewiss, wie lange diese Krise andauern wird. Wie lange wir noch mit dem Erreger leben müssen, ob ein Impfstoff gefunden wird, wie lange die Kontaktbeschränkungen andauern werden, wann wir wieder arbeiten dürfen, ob die Kinder dieses Schuljahr abschließen können …

      Über eine lange Zeit nicht zu wissen, wie es weitergeht, macht die Anpassung an die neue Situation schwierig. Um uns anzupassen, müssen wir ja erst einmal wissen, woran wir uns anpassen müssen. Das ist im Moment aber noch unklar. Die Informationen von offizieller Seite ändern sich jeden Tag und widersprechen sich teilweise sogar. Es ist immer noch nicht sicher, in welcher Form das tägliche Leben sich wieder in eine Normalität einfinden wird – und wann. Wird es das Lieblingscafé in einigen Wochen noch geben? Können wir im Sommer unsere besten Freunde besuchen? Wann sehen wir unsere Eltern endlich wieder? Dürfen wir überhaupt reisen? Wie geht es mit der Schule, dem Studium, der Ausbildung weiter?

      In den meisten Krisen dauert die Zeit der Unsicherheit nicht so lange an. Man ist krank und weiß nach einigen Tagen, was man hat. Man ist auf Reisen und die Brieftasche mit dem Geld und allen Papieren ist weg. Man erlebt eine Trennung und hat nach ein paar Tagen begriffen: Es ist vorbei. Es ist schlimm, aber man hat Klarheit. Die Anpassung beginnt. In der Corona-Krise ist aber genau diese Anpassung schwierig bis unmöglich, weil eben vollkommen unklar ist, an was man sich denn nun anpassen muss. Das erhöht bei vielen Menschen Unsicherheit, innere Anspannung und Angst.

      All das fordert uns heraus, genau zu prüfen, was nun wirklich hilfreich ist, um uns Stabilität zu geben. Woran sich diese Stabilität und Sicherheit erkennen lässt, welche Haltungen dabei hilfreich sind, schauen wir uns in den folgenden Kapiteln an.

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