Harras - der feindliche Freund. Winfried Thamm

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Harras - der feindliche Freund - Winfried Thamm

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Hast du Familie, Kinder?“

      „Ja, Helen, ist aber nicht mitgekommen, keine Betreuung für Karl, ist erst sieben.“

      „Was, du hast ein Kind? Hätte ich dir gar nicht zugetraut, entschuldige.“

      „Lass man, schon in Ordnung. Ja, Karl ist gut drauf.“

      „Toll, interessant, echt super.“ ... und so fort.

      Die Gattinnen meiner Freunde sprachen einleitende Worte und eröffneten das Büffet. Ich aß eine Kleinigkeit und hielt mich ansonsten eher ans Bier. Das ist für mich ein Getränk, das mich zwar stimuliert und mir Berührungsängste nimmt, das ich aber fast grenzenlos trinken kann, ohne wirklich richtig betrunken zu werden.

      So ging die Party dahin, mit vielen kleinen, schönen Begegnungen und auch längeren intensiveren Gesprächen. Man redete von alten Zeiten und von neuen Ereignissen, tauschte Telefonnummern oder E-Mail-Adressen aus, hatte Spaß.

      Ich kam von der Toilette, es war so gegen halb zwölf, betrat den Vorraum das Festsaals, in dem die Rockgruppe tobte und dachte noch, dass ich besser an den Stehtischen im Foyer bleibe, um zu schauen, wer mir sonst noch für einen netten Plausch über den Weg liefe, als in den vollen und dröhnenden Saal zurückzugehen. Dort war es mir zu laut für Gespräche und mein Bierkrug stand eh noch auf einem der Stehtische. Da öffnete sich die Tür zum Foyer und ein Mann trat ein:

      Schwarzes, schütteres Haar, ausgemergeltes, blasses Gesicht mit schiefer Nase, krumme Beine in engen schwarzen Jeans, schwarzes T-Shirt unter einer abgewetzten, ehemals schwarzen Lederjacke. Ich erkannte ihn sofort. Sein etwas linkischer Blick zwischen Arroganz und Schüchternheit und sein schmaler Mund, irgendwo zwischen Lächeln und Grinsen, kühl und einnehmend zugleich, bestätigte mein sekundenschnelles Wiedererkennen.

      Er war es: Harras! Mein bester Freund, mein ärgster Feind, von damals, vor 20 Jahren. Eigentlich hieß er Hans-Joachim, aber seine Art hatte etwas von einem scharfen Schäferhund und sein Gesicht erinnerte an das eines mageren hässlichen Pferdes.

      Ich hielt die Luft an. Das kann doch nicht wahr sein. Keiner meiner Gastgeber-Freunde hatte noch Kontakt zu ihm. Sie hatten zwar einige jugendliche Dummheiten und Abenteuer mit ihm erlebt, aber schließlich haben sie ihn für untragbar gehalten. Er war zu chaotisch, nicht berechenbar, manchmal peinlich und nicht vorzeigbar, selten angepasst und unauffällig, oft maßlos und noch häufiger betrunken, selten still und nachdenklich.

      Wieso ist der hier?

      Eine ungeheure Freude durchflutete mich, als hätte ich meine erste große Liebe wiedergesehen, und gleichzeitig schämte ich mich für diese Freude, als sei sie für mich und von mir selbst verboten. So hielt mich eine diffuse Scheu zurück vor diesem schwarz gekleideten Menschen, wie vor einer Gefahr. Und meine Freude war mir fremd.

      Ich trank einen Schluck Bier, straffte meinen Körper, strich mir über die Schläfen, riss mich zusammen und ging dann doch auf ihn zu. Die Neugier hatte gesiegt.

      In diesem Moment kam einer der Gastgeber auf ihn zu, begrüßte ihn eher erstaunt, drückte ihm ein Sektglas in die Hand, nahm ein Päckchen entgegen, tauschte ein paar Worte mit ihm und verließ ihn gleich wieder, schulterklopfend.

      Er scheint nicht eingeladen zu sein, dachte ich. Was macht er hier?

      Jetzt stand er da mit seinem Glas, etwas verloren. Ich ging auf ihn zu und sagte:

      „Hey, Harras, ich glaub’ es nicht. Du hier? Ich wusste gar nicht, dass du zu Bernhard oder Benno noch Kontakt hast? Du bist ja echt die absolute Überraschung!“

      Er stellte sich zu mir an einen der Stehtische, grinste verschmitzt und sagte:

      „Tja, wusste ich auch nicht.“

      „Wie ?“

      „Mein Anrufbeantworter hat mich eingeladen. Keine Ahnung, woher Benno meine Telefonnummer hat.“

      „Was, wer, wie?“

      „AN-RUF-BE-ANT-WOR-TER, neumodisches Gerät, kennst du nicht, oder wie? Hab nicht drauf geantwortet, weil ich nicht wusste, ob ich wirklich ...“

      „Das alte arrogante Arschloch, wie früher. Mein Gott, ich freu’ mich, dich zu sehen.“

      „Du musst mich nicht Gott nennen, ich bin inkognito hier. Du darfst Harras zu mir sagen.“ Und wieder dieses alte, arrogante und geliebte Grinsen.

      Anfangs umkreisten wir uns, tasteten uns ab wie im Boxring. Und dann erzählten wir die alten Geschichten von früher und tranken Bier und erzählten und tranken Bier ... Und bald, eher sehr bald, war die alte Kumpanei durch die alten Geschichten, die alte Nähe, nicht die alte Freundschaft, aber die alte Nähe wieder da.

      Ich fühlte mich gut mit ihm, unheimlich gut, aber auch seltsam unheimlich. Es war ein ambivalentes Gefühl aus windiger Unentschlossenheit und erwartungsvoller Zurückhaltung, etwa so, wie nach dem ersten Telefongespräch und vor dem ersten Rendezvous mit einer Frau, auf dem Weg dorthin. Ich weiß nicht, ob Sie mir da jetzt folgen können? Was ging da ab, fragte ich mich. Ich wusste es nicht, aber ich ergab mich seiner schwarzen, überheblichen, krummbeinigen und pferdegesichtigen Faszination.

      Kapitel 3

      10. Juli 2001

      Ich muss hier einmal meine Geschichte unterbrechen. Sie werden natürlich noch viel mehr über diesen Menschen, über diese „Erscheinung“ erfahren. Doch haben Sie ein wenig Geduld. Ich muss in diesem elendigen Krankenbett erheblich mehr Geduld aufbringen als Sie. Doch vorher sollten Sie mich erst ein wenig kennenlernen. Ich werde bald dreiundvierzig, habe einen wunderbaren, sieben Jahre alten Sohn namens Karl, führe oder führte – und das ist mir jetzt, ehrlich gesagt, selbst nicht mehr so klar – eine gute und normale Ehe mit einer bezaubernden Frau, eben der besagten Helen und habe oder hatte bis jetzt berufliche Erfolge mit meinem kleinen, aber expandierenden Unternehmensberaterbüro im Bereich Betriebsorganisation, Mitarbeitermotivation und Personalführung für mittlere Betriebe und soziale Träger. Ein kleines, aber frei stehendes Haus kann ich fast mein Eigen nennen, mit Garten und Baumhaus für den kleinen Karl. Ich habe mir einen gewissen Lebensstandard erarbeitet, der mir auch einmal etwas unbescheidenere Urlaubsreisen, gutes Essen und guten Wein erlaubt. Nur die Zeit war mein Problem. Ich hatte immer zu wenig davon. Jetzt habe ich sie, diese Zeit. Und deswegen spreche ich zu Ihnen aus dem Krankenhaus, in Gipsbeinen und Streckverbänden. Sie haben vielleicht keine Zeit, aber ich. Haben Sie Geduld.

      Es ist ja gar nicht so, dass ich vorher, ohne dieses großzügige Zeitkontingent, unglücklich gewesen wäre, nein. Unglücklich bin ich jetzt.

      In meiner zeitlosen Zeit habe ich mir immer gewünscht, Zeit zu haben über Grundsätzliches nachzudenken. Nicht über diese alltäglichen Organisationsfragen: Wer holt das Kind vom Fußballverein ab, wer geht einkaufen, wann bügle ich meine Hemden, bereite ich meinen nächsten Vortrag vor, putze die Fenster, packe das Auto für den Urlaub, mache ich einen Termin für den Zahnarzt, für den Kinderarzt, für den Hausarzt, für den Tierarzt? Wer, wie, wo, mit wem, für wen, gegen wen und wann? Und nie hatte ich Zeit für die Warum-Fragen. Warum habe ich diesen Weg eingeschlagen? Gibt es Gründe dafür, dass ich verheiratet bin und einen Sohn habe oder ist es einfach so passiert? War es Helens Wunsch und ich konnte nicht Nein sagen? Früher empfand ich die Institution Ehe als Liebestöter des Spießbürgertums und Kinder waren für mich grundsätzlich in Ordnung, nur nicht für mich. Ich wollte keine, ich hatte fast Angst vor ihnen und ihrer Distanzlosigkeit. Bin ich eingeknickt oder umgefallen? Habe ich

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