Seine schönsten Erzählungen und Biografien. Stefan Zweig

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Seine schönsten Erzählungen und Biografien - Stefan Zweig

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schwarzen Sklaven beherbergt es mehr als Portugal mit all seinen Untertanen; an wirtschaftlicher Kraft ist das amerikanische Reich nicht mehr zu vergleichen mit dem verarmten, in ökonomischen Marasmus immer tiefer verfallenden europäischen Heimatland. Mit viel Gold oder wenig Gold, mit seinen Diamanten, seinem Zucker, seiner Baumwolle, seinem Tabak, seinem Viehstand, seinen Erzen und nicht zuletzt seinen von Jahr zu Jahr gewaltig wachsenden Arbeitskräften hat es sich längst von jeder Hilfeleistung emanzipiert. Das Kind erhält jetzt die Mutter und nicht mehr die Mutter das Kind. Beim Erdbeben von Lissabon schickt Brasilien nicht weniger als drei Millionen Cruzados zum Aufbau als Geschenk hinüber, und vermögend ist in Portugal nurmehr, wer Besitz hat in Brasilien oder Handel treibt mit seinen Häfen und Städten. Wie eine Welt steht Brasilien neben der pequena casa Lusitana.

      Aber je kräftiger, je männlicher, je aufrechter Brasilien sich entfaltet, um so sichtlicher verrät das Mutterland die Sorge, sein allzu kräftig geratenes Kind könnte eines Tages seiner Obhut entlaufen. Immer wieder versucht es, das schon selbständig handelnde, selbständig denkende, selbständig wirkende Wesen, als ob es noch unmündig wäre und am königlichen Gängelband geführt werden müßte, in die Gehschule einzuschließen. Mit Gewalt soll seine wirtschaftliche Selbständigkeit verhindert werden. Während Nordamerika längst frei sein Schicksal bestimmt, darf Brasilien noch keine Waren erzeugen außer seinen Fertigprodukten. Es darf keine Stoffe weben, sondern soll sie auf dem Umweg über das Mutterland beziehen, es darf keine eigenen Schiffe bauen, damit einzig die portugiesischen Reeder verdienen. Für geistige Menschen, für Techniker, für Industrielle soll dort kein Raum sein und kein Tätigkeitsfeld. Kein Buch darf dort gedruckt werden, keine Zeitung veröffentlicht, und mit den Jesuiten nimmt man ihnen noch die einzigen, die dort ein wenig Bildung verbreiten. Nur keinen selbständigen ökonomischen Aufstieg, nur keine freie Verbindung mit den Weltmärkten! Brasilien soll Sklavenland bleiben, Fronland, abhängige Kolonie, und je unselbständiger, je ungeistiger, je unnationaler, desto besser. Jede Regung der Unabhängigkeit wird gewaltsam niedergeschlagen. Und die portugiesischen Truppen, die innerhalb Brasiliens stehen, haben längst nicht mehr wie einst den Sinn, die Kolonie gegen äußere Feinde zu schützen, – denn dies vermöchte das Land längst aus eigener Kraft –, sondern einzig die königliche Wirtschaftskaserne gegen das eigene Land zu bewachen.

      Aber immer wiederholt sich das gleiche Phänomen in der Geschichte; was in Jahren und Jahren an Vernunft und Gleichgültigkeit versäumt wird, erzwingt dann die brutale Gewalt in einer einzigen Stunde. Es ist groteskerweise Napoleon, der Welttyrann Europas, der dieses amerikanische Land befreit. Denn indem er den König von Portugal durch den blitzartigen Vormarsch seiner Truppen zwingt, seine Residenzstadt Lissabon in überstürzter Flucht zu verlassen, zwingt er ihn auch, zum erstenmal das Land in Augenschein zu nehmen, das ihm seine Paläste gebaut und seiner Krone, seinem Lande durch Jahrzehnte und Jahrhunderte der treueste Helfer gewesen. Statt der Zolleinnehmer und der Gendarmerie erscheint nun zum erstenmal mit seinem ganzen Hof, dem Adel und der Geistlichkeit ein Angehöriger des Hauses Bragança, der König João VI., in seiner Kolonie.

      Aber das neunzehnte Jahrhundert wird keine Kolonie Brasilien mehr kennen; König João bleibt keine andere Wahl, als das Kind, das ihn, den Geflüchteten, den kläglich Geschlagenen, in seine Arme nimmt und aufrichtet, feierlich für mündig zu erklären. Unter dem Titel des Vereinigten Königreichs wird Brasilien Portugal gleichgestellt, und für zwölf Jahre liegt die Hauptstadt dieses Doppelkönigreichs nicht am Tajo mehr, sondern in der Bucht von Guanabara. Mit einem Schlage sind die Schranken gefallen, die Brasilien vom Welthandel bisher abgeschlossen haben, vorbei ist die Zeit der Erlaubnisse und Verbote und strengen Dekrete. Fremde Schiffe dürfen seit 1808 hier landen, Waren ausgetauscht werden, ohne daß der Tribut abgeliefert werden müßte an die Tesouraria jenseits des Meers. Brasilien darf arbeiten und produzieren, darf sprechen und schreiben und denken, und so kann mit der wirtschaftlichen endlich auch die lange gewaltsam zurückgehaltene kulturelle Entwicklung beginnen. Zum erstenmal seit der flüchtigen Episode der holländischen Besetzung werden Gelehrte, Künstler, Techniker von hohem Rang ins Land berufen, um hier den Aufbau einer eigenen Kultur zu fördern. Völlig unbekannte Dinge wie Bibliotheken, Museen, Universitäten, Kunstakademien, technische Schulen werden eingerichtet und dem Lande volle Freiheit gegeben, seine Sonderpersönlichkeit im Kulturkreis der Welt zu zeigen und zu bewähren.

      Aber wer einmal das Gefühl der Freiheit kennen- und lieben gelernt hat, der hält dann nicht mehr ein, ehe er nicht die volle, die schrankenlose Freiheit erlangt. Selbst dies gelockerte Band, das das neue Königreich mit dem alten jenseits des Ozeans verbindet, empfindet es als Hemmung und Bedrückung. Und erst, wie es sich 1822 selber zum Königreich krönt, beginnt seine wahre Unabhängigkeit.

      Oder vielmehr, sie könnte beginnen. Denn nur im politischen Sinne gelingt es Brasilien, sich seine Unabhängigkeit zu erkämpfen, nicht aber im wirtschaftlichen. Im Gegenteil, bis tief in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gerät Brasilien eigentlich in schwerere ökonomische Abhängigkeit von England und den anderen Industriestaaten, als es vordem von Portugal gewesen. Brasilien hat – in seiner Entwicklung gehemmt durch die Verbote Lissabons – die industrielle Revolution verschlafen, die zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts unsere Welt durchgreifend zu verändern begann. Bisher konnte es in der Lieferung seiner Kolonialprodukte jede Konkurrenz überwinden durch die Billigkeit seiner Arbeitskräfte, durch die Sklaverei, und im wirtschaftlichen Sinn den ersten Rang unter allen amerikanischen Kolonien behaupten. Noch zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung war es im Export gegenüber Nordamerika führend gewesen und hatte in seinen Absatzziffern in manchen Jahren sogar diejenigen Englands erreicht. Aber im neuen Jahrhundert ist ein neues Element in die Weltwirtschaft eingebrochen: die Maschine. Eine einzige Dampfmaschine in Liverpool oder Manchester leistet jetzt, von einem Dutzend Arbeiter bedient, mehr als hundert und bald tausend Sklaven in der gleichen Zeit, Handindustrie kann von nun an gegen organisierte Fabrikindustrie auf die Dauer ebensowenig ankämpfen, wie nackte Eingeborene mit ihren Pfeilen gegen Maschinengewehre und Kanonen. Dieses an sich schon verhängnisvolle Zurückbleiben gegen das Tempo der Zeit wird noch vermehrt durch ein besonderes Mißgeschick. In dem gewaltigen und fast vollständigen Katalog seiner Erze und Gesteine fehlt gerade jener Kraftstoff, der für das neunzehnte Jahrhundert als motorische Substanz entscheidend ist: die Kohle.

      Brasilien hat in diesem entscheidenden Augenblick der Transport- und Kraftumstellung auf diese neue dynamische Substanz in seinem unübersehbaren Territorium nicht eine einzige Kohlengrube. Jedes Kilogramm muß viele Wochen weither verfrachtet und mit dem in seinem Wert rapid absinkenden Zucker überteuert bezahlt werden. Dadurch wird jeder Transport unrentabel, und durch die gebirgige Struktur des Landes verzögert sich der Bau von Eisenbahnen überdies noch um unersetzbare Jahrzehnte und setzt auch dann noch nur unzulänglich ein. Während sich der Umschlagrhythmus von Ware und Verkehr in den europäischen und nordamerikanischen Staaten von Jahr zu Jahr verzehnfacht, verhundertfacht, vertausendfacht, wehrt sich in Brasilien die Erde, Kohle herzugeben, stemmen sich die Berge und krümmen sich die Flüsse, als wollten sie sich weigern gegen das neue Jahrhundert. Bald zeigt sich das Resultat: von Jahrfünft zu Jahrfünft bleibt Brasilien immer mehr zurück in der modernen Entwicklung, und besonders der Norden mit seinen schlechten Verkehrsmitteln gerät in einen später kaum mehr aufzuhaltenden Verfall. Zu einer Zeit, da Schienenstränge in dreifachem und vierfachem Gürtel schon die Vereinigten Staaten von Osten nach Westen, von Süden nach Norden verbinden, sind hier auf einem gleich großen Terrain neun Zehntel des Landes Meilen und Meilen weit von jeder Schienenspur, und während den Mississippi und den Hudson und den San Lorenzo ständig die neuen Dampfboote auf- und niederfahren, erblickt man nur selten am Amazonas und São Francisco den Rauch eines Schornsteins. So kommt es, daß zu einer Zeit, da in Europa und Nordamerika die Kohlenminen und Eisenwerke, die Fabriken und Verkaufszentren, die Städte und die Häfen mit immer geringerem Zeitverlust zusammenarbeiten und sich die Potenz und Schlagkraft der Massenproduktion von Jahr zu Jahr übersteigert, Brasilien bis tief ins neunzehnte Jahrhundert bei den Methoden des achtzehnten, des siebzehnten und sechzehnten ohnmächtig stehenbleibt, immer nur dieselben Rohstoffe liefernd und dadurch im Absatz seiner Fertigwaren der Willkür des Welthandels wehrlos ausgeliefert.

      So fällt und verfällt die Handelsbilanz; Brasilien tritt als dominierender Faktor aus der vordersten

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