Sammelband 7 Krimis: Tuch und Tod und sechs andere Thriller auf 1000 Seiten. Alfred Bekker
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Vanessa war siebenundzwanzig, was, im Vergleich zu Berringers fünfundvierzig Jahren, ziemlich jung, für eine BWL-Studentin im dritten Semester aber schon recht getagt war. Sie hatte alles in ihrem Leben abgebrochen, was man abbrechen konnte, und auch dieses Studium würde sie vermutlich nicht beenden. Außerdem sah in Jeans und T-Shirt nun wirklich nicht so aus, als hätte sie vor, sich dem Lebensstil einer BWL-Studentin wenigstens für Dauer eines kompletten Studiums anzupassen. Da Berringers Büro in der Nähe der Universität lag, hatte er sich oft einen Sport daraus gemacht, einzuschätzen, welcher Fakultät die Studenten angehörten, die dort das Straßenbild prägten. Konservativ-biedere BWLer, elegante Romanistinnen, Sozialwissenschaftler im Grunge-Look oder angehende Psychologen mit Stachelhalsband.
Berringer hoffte, dass Vanessa den Job zumindest so lange behielt, bis die nächste Steuererklärung beim Finanzamt war, sonst konnte es ziemlich unangenehm für ihn werden.
Sie hatte sich manche Freiheiten herausgenommen. Zum Beispiel die, ihren Arbeitgeber Robert zu nennen und zu duzen. Berringer hatte nicht früh genug widersprochen, so war daraus etwas geworden, was man ein Gewohnheitsrecht nennen konnte. Berringer wusste, dass er ihr das Duzen nicht mehr würde abgewöhnen können, und darum versuchte er es auch gar nicht erst.
Er atmete tief durch.
Sie sah ihn etwas verstört an. Er wich ihrem Blick aus. Der Schock, der in ihren Zügen zu lesen stand, war unübersehbar. Sie hatte ihn nie zuvor in diesem Zustand gesehen, und wenn Berringer es hätte vermeiden können, dann wäre das auch niemals so weit gekommen.
Er sah an ihr vorbei.
Jetzt hatte er erst einmal genug damit zu tun, selbst bei Verstand zu bleiben und den Weg zurück in die Realität zu finden, da konnte er sich um das schockierte Gesicht seiner Mitarbeiterin nicht auch noch kümmern. Prioritäten setzen. Darauf kam es an.
Das hatte er in den zwanzig Dienstjahren bei der Polizei gelernt. Schnell entscheiden, was wichtig, was etwas weniger wichtig war und was im Moment erst einmal vernachlässigt werde konnte. Nur so vermied man es, sich in kritischen Situationen zu verzetteln.
Er sah an ihr vorbei, blickte zur Uhr.
„Es ist zehn Uhr zwanzig am Vormittag. Wir haben Dienstag. Ich befinde mich auf meinem Hausboot im Düsseldorfer Hafen, für das ich keinen Namen gefunden habe und das ich deshalb DIE NAMENLOSE genannt habe ...“ Erst murmelte, dann sagte er diese Dinge laut vor sich hin, was Vanessa Karrenbrock natürlich noch mehr verwunderte. Aber für Berringer war das sehr wichtig. Es war eine Technik, die bei posttraumatischen Belastungsstörungen half, wenn der Betreffende einmal wieder durch die Macht der Vergangenheit gefesselt war. Ein kleiner, unscheinbarer Anlass reichte aus, um das Erlebte zu reaktivieren. Dieselbe Temperatur, ein Geräusch, das damals eine Rolle gespielt hatte, ein Wort oder ein Geruch. Der Körper hatte sein eigenes Gedächtnis, und plötzlich befand sich der Betreffende wieder in jener Hölle, die er bereits so oft durchlitten hatte.
Aber es war schon besser geworden. Die Anfälle waren nicht mehr so häufig und vor allem nicht mehr so lang. Doch Berringer gab sich keinen Illusionen hin, was die Zukunft betraf. Und sein Psychiater im Übrigen auch nicht. Es dauerte eben einige Zeit, bis man es verarbeitet hatte, dass die eigene Familie durch eine Autobombe aus dem Leben gerissen wurde. Einfach so. Und weg!
Sein Psychiater hatte ihm gesagt, dass er mit bescheidenen Erfolgen zufrieden sein müsse. Berringer hatte sich selbst auf diesem Gebiet fortgebildet und festgestellt, dass der Mann Recht hatte. Andere Traumatisierte verloren den Verstand und wurden geisteskrank. Das war ihm erspart geblieben. Also konnte er doch eigentlich ganz zufrieden sein.
Zufrieden ...
Ein Wort, das Berringer in diesem Zusammenhang irgendwie unpassend erschien.
Er saß kerzengerade auf der Couch in seinem Wohnzimmer auf der NAMENLOSEN, die ihren festen Liegeplatz im Düsseldorfer Hafen hatte. Die NAMENLOSE war ein ehemaliger Binnenfrachter, den Berringer sich in jahrelanger und mühevoller Kleinarbeit zum Hausboot umfunktioniert hatte. Natürlich war er immer noch nicht fertig. Wer ihn kannte wusste, dass dies auch in Zukunft nie der Fall sein würde. Ein ewiges Projekt.
Durch die Bullaugen, die Berringer nachträglich hatte einsetzen lassen – erst hatte er es selbst versucht und dann erkannt, dass es doch besser war, jemanden zu fragen, der auch etwas davon verstand! – sah er einen lang gezogenen Frachter daher fahren.
Wahrscheinlich Richtung Duisburg. Alles, was schwimmen konnte, schipperte nach Duisburg, dem größten Binnenhafen Europas. Im Vergleich dazu war der Düsseldorfer Hafen nahezu unbedeutend.
Ein Signal ertönte.
Für Berringer bedeutete dieser Ton die endgültige Rückkehr in die Gegenwart.
Er sah Vanessa an.
„Was machst du hier eigentlich?“, fragte er.
„Eigentlich wäre ich heute im Büro, das ist richtig.“
„Und warum bist du da nicht?“
„Weil wir einen Klienten haben, den ich erstmal shoppen schickten musste, um hier raus zu fahren und dich aus deinem Dämmerzustand zu erlösen! Warum hast du dein Handy nicht abgenommen?“
„Weil es nicht geklingelt hat!“
„Hat es!“
Es lag auf einer Kommode. Vanessa nahm es und reichte es Berringer. Auf dem Display stand: Vier Anrufe in Abwesenheit.
Berringer erhob sich von der Couch und streckte sich. Er trug ein fleckiges Sweatshirt und eine Jeans. Das Haar ging schon deutlich zurück, und der Bart hatte graue Stellen.
„Robert, was war los?“, beharrte sie. „Wenn ich nicht wüsste, dass du total gegen so etwas eingestellt bist, dann würde ich jetzt denken, du nimmst vielleicht Drogen oder so was...“
„Ich bin manchmal so“, sagte er. „Und ich lasse es behandeln. Wenn mich nicht jemand in meinen eigenen vier Wänden überrascht, dann bekommt das normalerweise auch niemand mit ...“
Was er nur nicht garantieren konnte, wie ihm die vom Widerspruchsgeist geprägte Stimme in seinem Hinterkopf erklärte. Es konnte immer und überall passieren, wenn die Auslöser – die sogenannten Trigger - vorhanden waren. Das wusste er sehr gut.
„Ich habe es unter Kontrolle“, behauptete Berringer.
Sagte er das, um dich selbst zu beruhigen oder um Vanessa etwas vorzumachen?
Letztere konnte er vielleicht belügen. Aber sich selbst konnte er nichts vormachen.
„Es sah sehr gefährlich aus“, sagte sie.
„Das ist es aber nicht. Und im Übrigen ist dieses Schiff eigentlich für jeden Außenstehenden ein Tabu-Gebiet. Was glaubst du, weswegen ich ein Büro habe?“
„Ich bin eine Außenstehende?“, wunderte sich Vanessa und zuckte mit den Schultern.
„Du bezahlst mich, deswegen bist du auch der Boss. Dein Wort ist Gesetz, und wenn du das so siehst, soll es mir recht sein.“
„Nimm es nicht persönlich, aber ...“ Berringer sprach nicht weiter.