Schweiz – Europäische Union: Grundlagen, Bilaterale Abkommen, Autonomer Nachvollzug. Matthias Oesch

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Schweiz – Europäische Union: Grundlagen, Bilaterale Abkommen, Autonomer Nachvollzug - Matthias Oesch

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sich grundsätzlich mit der Gestaltung der Beziehungen zur EU auseinanderzusetzen. Der bilaterale Weg in seiner jetzigen Form steht auf dem Prüfstand.

      In Ergänzung zu den bilateralen Abkommen wird das Verhältnis der Schweiz zur EU und zu ihren Mitgliedstaaten durch eine Vielzahl weiterer staatsvertraglicher Regelwerke und internationaler Organisationen geprägt. Dazu gehören zuvörderst die UNO-Pakte I und II, die OECD, der Europarat, die EMRK und die weiteren Konventionen unter der Ägide des Europarates (Minderheitenschutz, Soziales, Bildung, Kultur, Privat- und Strafrecht), wobei die EU bei diesen Organisationen und Regelwerken nicht Vertragspartei ist, wohl aber ihre Mitgliedstaaten. Im Handelsrecht stellt das WTO-Recht auch für das bilaterale Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU die Grundordnung dar; hier ist die EU parallel zu ihren Mitgliedstaaten formell Vertragspartei. Im Bereich der gerichtlichen Zuständigkeit und der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist das revidierte Lugano-Übereinkommen (LugÜ) bedeutsam; dieses Übereinkommen gilt zwischen der EU, Dänemark sowie den EFTA-Mitgliedstaaten Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz. Im Klimaschutz besteht eine Vielzahl von Verträgen und Protokollen, welche häufig unter dem Dach der UNO und ihres Umweltprogramms UNEP ausgehandelt wurden. Dazu gehören die Klimaschutzrahmenkonvention (UNFCCC) von 1992, das Kyoto-Protokoll von 1997 und das Pariser Abkommen von 2015; auch bei diesen Verträgen ist die EU parallel zu ihren Mitgliedstaaten Partei. Unzählige Verträge zwischen der Schweiz und einzelnen europäischen Staaten – insbesondere den Nachbarstaaten Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Italien und Frankreich – komplementieren diese Regelwerke. In Ergänzung zu klassischen völkerrechtlichen Bindungen bedienen sich Staaten und Entitäten zunehmend auch internationaler Foren und transnationaler Netzwerke, deren Berichte, Empfehlungen und Verlautbarungen zwar rechtlich nicht verbindlich sind, faktisch aber gleichwohl weitreichende Wirkung entfalten; dazu gehört etwa der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, dessen Standards für die Regulierung und Beaufsichtigung von Banken (z.B. Eigenmittelanforderungen) weltweit und damit auch für die EU und die Schweiz normgebend wirken und Eingang in die unionalen und nationalen Rechtsordnungen finden.

      Zeitweise werden Verträge direkt zwischen den Gemeinwesen in den Grenzregionen abgeschlossen (Art. 56 BV; kleine Aussenpolitik). Zurzeit sind deutlich mehr als 100 Verträge zwischen Kantonen und anderen Staaten oder grenznahen Regionen in Kraft (R. Rhinow/M. Schefer/P. Uebersax, Rz. 3730), typischerweise in den Bereichen Verkehr, Bildung, Kultur, Raumplanung, Umweltschutz und Wirtschaft. Beispiele sind die Gegenrechtsvereinbarungen zwischen dem Kanton St. Gallen und Österreich bzw. dem österreichischen Bundesland Niederösterreich über die Anerkennung von Jagdkarten (1976, sGS 853.155) bzw. der Jägerprüfung (1999, sGS 853.163).

      Diese völkerrechtlichen Regelwerke – auf die bei der Darstellung der bilateralen Abkommen bereichsspezifisch Bezug genommen wird – sind beim Studium der bilateralen Abkommen allesamt zu berücksichtigen. Dasselbe gilt für allgemeine Rechtsgrundsätze und Völkergewohnheitsrecht. Bei Kollisionen sind spezielle Vorgaben (s. etwa Art. 21 FZA betr. Doppelbesteuerungsabkommen; Art. 16 LVA betr. Vereinbarungen über Verkehrsrechte für Luftfahrtunternehmen) und die allgemeinen Regeln über die Einhaltung, Anwendung und Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen anwendbar (Art. 26-33 WVRK), zuvörderst die Grundsätze lex specialis derogat legi generali und lex posterior derogat legi priori.

      Parallel zum völkervertragsrechtlich abgesicherten Bilateralismus verfolgt die Schweiz seit 1988 eine Politik des autonomen Nachvollzugs bzw. – synonym verstanden – der Europaverträglichkeit. Neue Gesetze und Verordnungen wie auch die Änderung von bestehenden Erlassen werden auf Bundesebene im Vorbereitungsstadium systematisch auf ihre Europakompatibilität hin überprüft (Art. 141 Abs. 1 lit. a ParlG). Bereits 1998 hielt der Bundesrat fest, dass mit der Einführung der Europaverträglichkeitsprüfung ein «Europareflex» ge­schaffen wurde; neue schweizerische Erlasse «sind im allgemeinen eurokompatibel, ausnahmsweise nicht» (Antwort des Bundesrates vom 13. Mai 1998 auf die Einfache Anfrage 98.1032 «Swisslex II»). Damit wird das schweizerische Recht fortlaufend europäisiert, ohne dass staatsvertragliche Verpflichtungen den Anpassungsprozess auslösen. Die Politik des autonomen Nachvollzugs gehört mittlerweile zum Standardrepertoire des Gesetz- und Verordnungsgebers in Bern. Es gibt in der Schweiz kaum mehr ein Rechtsgebiet, welches nicht direkt oder indirekt vom EU-Recht beeinflusst wird. Dieses wird auch in der Schweiz zum gelebten ius commune.

      Dieses Buch behandelt die rechtlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Der erste Teil skizziert die sektoriell weit fortgeschrittene Integration der Schweiz in den unionalen Rechtsraum und reflektiert die fehlende Abbildung dieser Integration in der Bundesverfassung. Der zweite Teil stellt die bilateralen Abkommen vor, ihre Entstehung und Grundzüge, ihre institutionelle Ausgestaltung – inkl. Seitenblick auf das geplante Institutionelle Abkommen – sowie den Inhalt der einzelnen Abkommen. Der dritte Teil widmet sich dem autonomen Nachvollzug von EU-Recht in der Schweiz. Ein Epilog rundet die Ausführungen ab.

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      Die Schweiz als «zugewandter Ort» der EU

      Die Doppelstrategie der völkerrechtlichen Anbindung und selbstgewählten Anpassung führt zu einer sektoriell weitreichenden Integration der Schweiz in das Recht der EU, weshalb die Schweiz als «zugewandter Ort» der EU (D. Freiburghaus, S. 391; M. Oesch/A. Lang, S. 135) oder als «de facto Mitglied der EU» (T. Cottier et al., Rz. 998; A.R. Ziegler, De-facto Mitgliedschaft, S. 270) qualifiziert wird oder von einer «Passivmitgliedschaft» (U. Altermatt, S. 155) oder einer «Integration ohne Mitgliedschaft» (M. Vahl/N. Grolimund, passim) die Rede ist.

      Die Schweiz ist mit der EU in der Tat ausserordentlich eng verbunden. Politisch, gesellschaftlich, kulturell und wissenschaftlich teilen die Schweiz und die EU gemeinsame Grundwerte. Die geographische Lage inmitten Europas verschafft der Schweiz in Verkehrsfragen eine zentrale Stellung. Auch die wirtschaftliche Vernetzung ist gross (s. für diese Zahlen www.eda.admin.ch/dea und Link zu Europapolitik der Schweiz). Knapp 52 % aller Exporte aus der Schweiz werden in den EU-Raum geliefert. Rund 70 % aller Importe in die Schweiz stammen aus dem EU-Raum. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem deutschen Markt, der knapp 20 % aller Exporte aus der Schweiz abnimmt und für 27 % aller Importe in die Schweiz verantwortlich zeichnet (wobei die Handelsbeziehungen mit den Nachbarbundesländern Baden-Württemberg und Bayern ganz im Vordergrund stehen). Mehr als die Hälfte der schweizerischen Auslandinvestitionen fliesst in den EU-Raum. Damit ist die EU bei weitem die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Eine Studie schätzt, dass die Schweiz – als Drittstaat! – pro Kopf von allen europäischen Staaten am meisten von der Errichtung des Binnenmarktes profitiert hat (Bertelsmann Stiftung, Ökonomische Effekte des EU-Binnenmarktes in Europas Ländern und Regionen, 2019). Umgekehrt ist aber auch die Schweiz für die EU wichtiger, als es ihre Stellung als Kleinstaat vermuten lässt. In absoluten Zahlen ist die Schweiz nach den Vereinigten Staaten und China die drittwichtigste Handelspartnerin der EU. Auch bei den Personen, welche sich regelmässig in der EU bzw. Schweiz aufhalten – sei es als Arbeitskräfte, sei es als Pensionierte, Privatiers oder Studierende, sei es als Familienangehörige von freizügigkeitsberechtigten Personen –, ist die Verflechtung gross: Aktuell sind mehr als 450 000 Schweizerinnen und Schweizer in der EU niedergelassen (wobei rund ¾ dieser Personen Mehrfachbürgerinnen und Mehrfachbürger sind). Umgekehrt wohnen mehr als 1 400 000 EU/EFTA-Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz; damit kommen rund zwei Drittel der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz aus der EU/EFTA. 320 000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus der EU arbeiten in der Schweiz und überqueren die Grenzen in der Regel täglich oder mindestens einmal pro Woche.

      Die Schweiz beteiligt sich an diversen Agenturen, Programmen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU. Dabei sticht insbesondere die Teilnahme an Agenturen ins Auge, welche als selbständige Verwaltungseinheiten dezentralisiert Verwaltungsaufgaben erledigen und ein wesentliches Rückgrat der Eigenverwaltung der EU bilden. Sie sind Teil des europäischen Verwaltungsverbunds (E. Schmidt-Assmann, S. 1; s. zu diesem Label auch BVerfGE 140, 317 [338] – Identitätskontrolle), wobei dieser Verbund durch die Beteiligung von Drittstaaten über die EU hinaus erweitert wird und paneuropäische

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