Die Spaltung Amerikas. Arthur M. Schlesinger
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Die Welt schrumpft zusammen, ihre Bevölkerung ist heute durchmischt wie nie zuvor. Die Schrumpfung unterwirft die Welt einer Art Schrotsäge, die sie in entgegengesetzte Richtungen reißt – intensiver Druck in Richtung Globalisierung einerseits, in Richtung Fragmentierung andererseits. Der Weltmarkt, die elektronischen Technologien, die Sofortkommunikation, E-Mail, CNN – all dies untergräbt den Nationalstaat und entwickelt eine Welt ohne Grenzen. Gleichzeitig treiben genau diese internationalisierenden Kräfte die normalen Menschen dazu, Zuflucht vor unerbittlichen globalen Strömungen zu suchen, die sich ihrer Kontrolle und ihrem Verständnis entziehen. Je mehr Menschen das Gefühl haben, in einem riesigen, unpersönlichen, anonymen Meer zu treiben, desto verzweifelter schwimmen sie auf irgendein vertrautes, verständliches und schützendes Rettungsfloß zu; und desto mehr sehnen sie sich nach einer Politik der Identität. Integration und Desintegration sind daher Gegensätze, die sich gegenseitig verstärken. Je mehr sich die Welt integriert, umso mehr klammern sich die Menschen an ihre jeweiligen Eigengruppen, die in diesen post-ideologischen Tagen zunehmend durch ethnische und religiöse Loyalitäten definiert werden.
Was geschieht, wenn Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Religionen praktizieren, in derselben geographischen Region und unter derselben politischen Autorität miteinander zusammenleben? Wenn kein gemeinsames Ziel sie verbindet, werden ethnische Antagonismen sie auseinandertreiben. In dem dunkel vor uns liegenden Jahrhundert steht die Zivilisation vor einer kritischen Frage: Was hält eine Nation eigentlich zusammen?
Niemand dachte im 19. Jahrhundert sorgfältiger über eine repräsentative Regierung nach als John Stuart Mill1. Die beiden Elemente, die eine Nation, so wie Mill sie sah, definierten, waren der Wunsch der Bewohner, gemeinsam regiert zu werden, und die „gemeinsame Sympathie“, die sich in gemeinsamer Geschichte, gemeinsamen Werten und durch die gemeinsame Sprache entfalten würde.
„Freie Institutionen“, schrieb Mill, „sind in einem Land, das aus verschiedenen Nationalitäten besteht, so gut wie unmöglich. Innerhalb eines Volkes ohne Verbundenheitsgefühl der Menschen füreinander, gerade, wenn sie in verschiedenen Sprachen lesen und sprechen, kann eine geeinte öffentliche Meinung, die für die Arbeit einer repräsentativen Regierung notwendig ist, nicht existieren. ... Es ist im Allgemeinen für freie Institutionen eine notwendige Bedingung, dass die Grenzen der Regierungsmacht im Wesentlichen mit denen der Nationalitäten übereinstimmen.“
In unserer Welt decken sich diese Grenzen immer weniger miteinander. Es gibt nur noch wenige ethnisch homogene Staaten. Tagtägliche Ereignisse zeigen uns die Zerbrechlichkeit des nationalen Zusammenhalts. Wohin man auch blickt, überall ist Tribalismus der Grund dafür, dass Nationen auseinanderbrechen. Die Sowjetunion, Jugoslawien, die Tschechoslowakei sind schon auseinandergebrochen. Indien, Indonesien, Irland, Israel, Libanon, Sri Lanka, Afghanistan und Ruanda erleben ethnische oder religiöse Unruhen. Ethnische Spannungen verursachen Unruhen und Aufspaltungen in China, Südafrika, Rumänien, der Türkei, Georgien, Aserbaidschan, auf den Philippinen, in Äthiopien, Somalia, Nigeria, Liberia, Angola, dem Sudan, Kongo, Guyana, Trinidad, um nur einige zu nennen. Selbst so stabile und kultivierte Nationen wie Großbritannien und Frankreich, Belgien und Spanien sehen sich mit zunehmenden ethnischen Problemen konfrontiert. „Das Virus des Stammesdenkens“, schreibt der britische Economist, „droht das AIDS der internationalen Politik zu werden – jahrelang scheint es zu schlafen, dann aber flammt es auf, um ganze Länder zu zerstören.“
Nehmen wir den Fall unseres Nachbarn im Norden. Kanada wurde lange als das vernünftigste und friedfertigste Land der Welt betrachtet. „Reich, friedlich und, gemessen an anderen Ländern, beneidenswert erfolgreich“, schreibt der Economist, „doch heute an der Schwelle zu zerbrechen.“ Michael Ignatieff, der in England lebende Sohn eines in Russland geborenen kanadischen Diplomaten und von daher ein Beispiel für die moderne Vermischung von Völkern, schreibt über Kanada:
„Hier haben wir eines der fünf reichsten Länder der Erde, ein Land, das so einzigartig gesegnet ist mit Raum und Chancen, dass die Ärmsten der Welt an seine Tür klopfen, um eingelassen zu werden. Es selbst zerreißt darüber jedoch. ... Wenn eines der fünf am meisten entwickelten Länder der Erde keinen föderalen, multiethnischen Staat herausbilden kann, wer kann es dann?“
Die Antwort auf diese zunehmend bedeutsamer werdende Frage lautet, zumindest bis vor kurzem: die USA.
Wie gelang es den Amerikanern aber, so erfolgreich zu sein bei der Anwendung dieses beispiellosen Kunstgriffs? Andere Länder brachen auseinander, weil sie es versäumten, ethnisch ganz unterschiedlichen Menschen überzeugende Gründe zu liefern, sich selbst als Teil derselben Nation zu sehen. Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe2 schreibt über sein eigenes Land, eines der reichsten Afrikas, das heute am Rande des Chaos steht: „Dies ist die größte Schwäche der Nigerianer – ihre Unfähigkeit, schwerwiegenden Bedrohungen als ein Volk zu begegnen – und nicht als konkurrierende religiöse und ethnische Interessengruppen.“
In dieser Hinsicht haben die USA gut funktioniert. Als multiethnisches Land haben sie, abgesehen von einem schrecklichen Bürgerkrieg, irgendwie zusammen- und miteinander durchgehalten. Was hat eigentlich die Amerikaner über zwei turbulente Jahrhunderte hinweg zusammengehalten, trotz des Fehlens einer gemeinsamen ethnischen Herkunft? Denn Amerika war multiethnisch von Anfang an. Hector St. John de Crèvecoeur3 emigrierte 1759 aus Frankreich in die amerikanischen Kolonien, heiratete eine amerikanische Frau, gründete eine Farm in Orange County, New York, und veröffentlichte während der amerikanischen Revolution seine Briefe eines amerikanischen Farmers (Letters from an American Farmer)4. Diesen Franko–Amerikaner des 18. Jahrhunderts entzückte die erstaunliche Vielfalt anderer Siedler um ihn herum: „Eine Mischung von Engländern, Schotten, Iren, Franzosen, Holländern, Deutschen und Schweden“, eine „merkwürdige Vermischung von Blut“, die man sonst in keinem anderen Land finden könne.
Crèvecoeur erinnerte sich an eine Familie, deren Großvater ein Engländer war: Seine Frau stammte aus Holland, ihr gemeinsamer Sohn heiratete eine Französin, und auch die vier Söhne dieses Paares hatten Frauen verschiedener Nationalitäten geheiratet. „Aus diesem völligen Herkunftsdurcheinander“, so schrieb Crèvecoeur, „entstand die Rasse, die wir jetzt Amerikaner nennen.“ (Das Wort Rasse, wie es im 18. und 19. Jahrhundert gebraucht wurde, meint das, was wir heute als Nationalität bezeichnen. So sprach man damals von der „englischen Rasse“, der „deutschen Rasse“ und so weiter.) Was, so überlegte der Autor, waren überhaupt die charakteristischen Eigenschaften dieser plötzlich sich bildenden amerikanischen Nationalität? In den Briefen eines amerikanischen Farmers formulierte Crèvecoeur eine berühmt gewordene Frage: „Was ist denn der Amerikaner, dieser neue Mensch?“
Crèvecoeur gab seiner eigenen Frage die klassische Antwort:
„Derjenige ist ein Amerikaner, der all seine vormaligen Vorurteile und Gewohnheiten hinter sich lässt und neue annimmt – aus der neuen Lebensart, die er nun pflegt; dazu die neue Regierung, der er nun gehorcht, und entsprechend die neue Stellung, die er nun innehat. Der Amerikaner ist ein neuer Mensch, der aufgrund neuer Prinzipien handelt. … Hier werden Menschen aller Nationen zu einer neuen Art von Menschen umgeschmolzen.“5
Der erste große amerikanische Historiker bekräftigte alsbald Crèvecoeurs Standpunkt. „Löschen Sie“, schrieb George Bancroft6,
„die Vergangenheit jeder einzelnen führenden