Schrottreif. Isabell Morf

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Schrottreif - Isabell Morf

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Sie hatte auch keine Angst. Sie war plötzlich ganz kühl. War das eine Art Todesdrohung gewesen? Ich muss etwas unternehmen, dachte sie. Sie legte das Paket auf den Balkon und setzte sich an den Küchentisch. Es konnte keine ernst gemeinte Drohung sein. Es gab niemanden, der sie umbringen wollte, da war sie sich sicher. Aber es gab offensichtlich jemanden, der sie in Angst und Schrecken versetzen wollte. Wer? Warum? Hatte er gewusst, dass sie um diese Zeit nach Hause kam? Sie würde sich das nicht bieten lassen. Morgen früh vor der Arbeit würde sie auf dem Polizeiposten vorbeigehen.

Donnerstag, 1. Woche

      1. Teil

      Zita Elmer nahm Valeries Anzeige entgegen. Sehr viel konnte sie nicht tun. Sie würde abklären, ob anderswo in der Stadt in der letzten Zeit weitere Anzeigen wegen ähnlicher Belästigungen eingegangen waren, und das Paket würde sie beim Technischen Dienst auf Fingerabdrücke und andere Spuren untersuchen lassen. Vielleicht konnte man auch herausbekommen, wo der Fisch herkam.

      »Früher, als es noch keine Computer gab, wurden anonyme Briefe so zusammengebastelt. Heute könnte man sie einfach tippen. Vielleicht stammt der Schrieb von einer älteren Person, die nicht mit einem Computer umzugehen weiß, überlegte sie. Haben Sie eine Ahnung, wer Ihnen bös will?«

      »Darüber habe ich mir wirklich den Kopf zerbrochen«, seufzte Valerie, »aber ich kann es mir nicht vorstellen. Natürlich gibt es ab und zu mal Kunden, die unzufrieden sind und sich beschweren. Und vor ein paar Wochen hatte ich eine kurze Affäre mit einem Mann, der es mir übel nahm, als ich nichts weiter von ihm wollte. Aber das sind alles keine Gründe für eine solche Bosheit.«

      »Geben Sie mir trotzdem den Namen jenes Mannes und der Kunden, mit denen Sie in letzter Zeit Auseinandersetzungen hatten.«

      Valerie gestand, von jenem Mann nur den Vornamen zu kennen, was ihr ein bisschen peinlich war. »Krach hatte ich kürzlich mit einer Kundin, Angela Legler. Aber ich bin praktisch sicher, dass die Stimme am Telefon einem Mann gehört hat. Und ich kann sie mir auch nicht beim Basteln eines solchen Briefs vorstellen.«

      Zita Elmer gab Valerie ihre private Handynummer. »Unter Polizeischutz können wir Sie nicht stellen«, entschuldigte sie sich.

      Valerie wehrte ab. »Das will ich auch gar nicht, das brauche ich nicht. Ich käme mir ja komisch vor mit einem Bodyguard.« Es gelang ihr ein Lächeln, auch wenn es etwas verrutscht aussah.

      »Sie können mich jederzeit auch außerhalb meiner Dienstzeiten anrufen, wenn wieder etwas geschieht.«

      »Danke.« Valerie ging zum FahrGut hinüber und Zita Elmer bestellte einen Kurier, der das unappetitliche Fischpaket zur Untersuchung bringen würde.

      Valerie war etwas knapp dran, Markus war schon da. »Guck mal, was ich da gefunden habe. Lag am Boden bei der hinteren Türe.«

      Es war ein schmuddliger Briefumschlag, mit Druckbuchstaben beschriftet mit ›Valerie Gut‹. Valerie wurde rot und nahm ihn Markus aus der Hand. Schnell ging sie ins Büro hinunter. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihre Angestellten etwas von den Bedrohungen erfuhren. Sie riss den Umschlag auf. ›Tote Fische schwimmen mit dem Strohm‹, stand da. Wieder ausgeschnittene, auf den Bogen geklebte Buchstaben. Ein völlig sinnloser Satz. Es ging offensichtlich nur um die ersten beiden Wörter. Der Rechtschreibfehler mochte etwas zu bedeuten haben oder auch nicht. Am meisten erschütterte Valerie, dass der Unbekannte sie auch in ihrem Geschäft verfolgte. Sie schob den Papierbogen in den Umschlag zurück. Mittags würde sie ihn Zita Elmer bringen. Für den Moment wollte sie sich zwingen, nicht mehr daran zu denken, sondern sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

      Valerie rief Luís zu sich. Seppli schlief im Büro neben dem Ofen, vermutlich träumte er, denn seine Beine bewegten sich und er gab kleine, aufgeregte Laute von sich. Vielleicht jagte er im Traum über eine grüne Wiese und erlebte große Abenteuer. Luís warf ein Blick hinüber und kicherte, dann konzentrierte er sich wieder auf das Velo vor ihm. Valerie hatte einen Stapel hellgelber Post-it-Zettelchen in der Hand, jedes mit einem Wort beschriftet. ›Speiche‹, ›Bremskabel‹, ›Rücklicht‹ und Ähnliches stand darauf. Sie gab Luís eines nach dem anderen; er las die Aufschrift laut vor und klebte das Zettelchen an die richtige Stelle des Rads. ›Gangschaltung‹. Ein schwieriges Wort. Lang. Kaum auszusprechen. Und was bezeichnete es schon wieder?

      »Schau dir zunächst nur den ersten Teil des Wortes an«, gab ihm Valerie einen Tipp.

      Gang, klar, ging Luís auf.

      »Und was machst du, wenn du nicht mehr im fünften, sondern im sechsten Gang fahren willst?«

      Richtig, schalten. Und das Ding, mit dem man das bewerkstelligte, war eben – die Gangschaltung.

      Sie ging mit ihrem Anlehrling nach oben, griff sich ein Rad, an dem die Gangschaltung repariert werden musste, und begann, Luís am Objekt zu erklären, wo das Problem lag und wie es anzugehen war.

      Die Ladenglocke ertönte und aus dem Augenwinkel sah Valerie, dass Hugo Tschudi seine alte Mühle in den Laden schob. Wehe, wenn heute Abend wieder etwas fehlt, drohte sie in Gedanken gereizt.

      Markus kümmerte sich sogleich um ihn; zusammen beugten sie sich über das Fahrrad. Der Mechaniker holte einen Schraubenzieher, es war offenbar nur eine lockere Schraube anzuziehen. Valerie nervte es besonders, dass Hugo mit Problemen ankam, die er selbst hätte beheben können. Wenn er auf dem Fahrrad durch Lateinamerika gefahren war, wie er regelmäßig erzählte, musste er wohl imstande sein, eine Schraube an seinem Velo festzudrehen.

      »Also, bis Samstag«, hörte sie Hugo zu Markus sagen. So, dachte sie, gleich wieder verärgert, die treffen sich also in der Freizeit. Es ging sie ja nichts an, aber ihr Unmut blieb. Sie hatte in der letzten Zeit eine Abneigung gegen Hugo entwickelt, was vermutlich ungerecht war, wie sie sich eingestehen musste. Auf den ersten Blick wirkte er ein wenig eigen, ein bisschen schrullig, vielleicht etwas lästig, jedoch harmlos. Aber mit der Zeit hatte Valerie ab und zu Blicke von ihm aufgefangen, die ihr nicht gefallen hatten. Kühl, hochmütig, spöttisch. Sie konnten einen unbeholfenen Kunden treffen oder Luís, wenn er Schweizerdeutsch sprechende Kundschaft nicht verstand, oder auch sie selbst, vor allem, wenn sie von irgendetwas genervt war, zum Beispiel von einem komplizierten Kunden, und es sich nicht anmerken lassen wollte. Hugo schien es zu merken – und zu genießen. Es begann sie zu stören, dass er regelmäßig im FahrGut herumlungerte, und sie überließ es meist Markus, sich mit ihm herumzuschlagen. Möglicherweise war das keine gute Idee gewesen. Hugo zu ›ermorden‹ hatte natürlich nichts genützt, der kam sowieso, ob er nun den halbjährlichen Versand bekam oder nicht. Die teuren Neuheiten, die in den Prospekten vorgestellt wurden, konnte er sich ohnehin nicht leisten. Aber immerhin erhielt er keinen Gutschein mehr, mit dem er zehn Prozent auf einen Winterservice erhalten hätte. Das hätte gerade noch gefehlt. Ob er vielleicht – nein, das traute Valerie ihm denn doch nicht zu, dass er auf solche Gemeinheiten kam.

      Sie sah auf. Tschudi war ja immer noch da. Er stand neben ihr, schaute auf sie herunter.

      »Und wie gehts der Frau Chefin?«, erkundigte er sich mit gespielter Ehrerbietung. »Viel Ärger im Geschäft wie meistens?«

      Valerie nahm sich zusammen. »Danke«, antwortete sie kurz, »mir gehts bestens.« Nur nicht provozieren lassen, ermahnte sie sich. Und fügte doch etwas bissig hinzu: »Wir haben günstige Schraubenzieher im Sortiment. Natürlich nur, falls Sie den Ehrgeiz haben sollten, zu lernen, selbst eine lockere Schraube anzuziehen.«

      »Wollen Sie damit sagen, bei mir sei eine Schraube locker?«, fragte Tschudi heiter zurück. »Dann wäre ich bei Ihnen ja an der richtigen Adresse.«

      Valerie hatte nicht die geringste Lust auf ein Wortgeplänkel.

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