Wut und Wellen. Peter Gerdes
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Den Umbruchtermin hatte er nur mit Mühe und Not eingehalten, nicht zuletzt wegen des modernen Computers, den man ihm im letzten Moment noch bewilligt hatte und der sich jetzt auf einem der wackeligen Vorkriegsschreibtische ausnahm wie ein Raketenwerfer auf einem Maultierkarren. Der PC war mit allen nötigen Text- und Bildverarbeitungsprogrammen ausgestattet, so dass Marian es tatsächlich geschafft hatte, drei komplette Seiten mit Stoff zu füllen. Die Datenübertragung allerdings hatte ihn endgültig den letzten Nerv gekostet. Danach brauchte er unbedingt Abstand.
Ein Zufall, dass ihm tagsüber bei einem seiner Termine, der Vorstellung eines neuen Gourmettempels, der am Wochenende öffnen sollte, dieser lustige, junge Koch über den Weg gelaufen war. »Heute Abend noch mal gepflegt in die Disse, ehe der Trubel hier richtig losgeht und man für den Rest des Sommers gar nicht mehr von der Insel runterkommt«, hatte sich der Marian leutselig anvertraut.
»Und wie? Wochentags legt die letzte Fähre doch schon um 17.30 Uhr ab.«
Der Koch hatte über sämtliche Sommersprossen gegrinst. »Connections, Alter! Mein Chef hat ›n Boot, das kann ich kriegen. Und ein Kollege hat ›n Bootsführerschein, der ist Antialkoholiker. Ein paar von den Saisonkräften sind auch dabei. Heute Abend um 23 Uhr geht’s los. Willste mit? Platz ist noch.« Ein nettes, aber nicht völlig selbstloses Angebot, denn jeder Mitfahrer beteiligte sich mit ein paar Euro an den Spritkosten.
Marian hatte dankend abgelehnt. Und hatte dann doch um 22.50 Uhr am Jachthafen gestanden. Ein heißer Ritt war das gewesen, trotz nur mäßig bewegter See. Aber das Boot war ein echter Flitzer mit winziger Kajüte, die meisten Sitze waren draußen in der offenen Plicht, der Motor war stark und der junge Steuermann offenbar hochmotiviert. Marian hatte einige Erfahrung mit Booten, daher war ihm angst und bange geworden. Die anderen Passagiere, einige davon kaum halb so alt wie er, hatten nur lustvoll gejohlt.
In Bensersiel hatte Marian sich in seinen Golf geworfen und war ähnlich verwegen nach Oldenburg gerast. Und kaum hatte er sich in seinem vertrauten Bett schlafen gelegt, da hatte ihn der Wecker auch schon wieder aus den Federn gescheucht. Jedenfalls war ihm das so vorgekommen. Die Rückfahrt hatte Marian wie in Trance erlebt. Kurz vor Bensersiel hatte er ein Stoppschild ignoriert und beinahe einen Unfall gebaut. Ein Wahnsinn, die ganze Aktion. Nie wieder, schwor er sich.
Der Wind zauste seine braunen Locken, die er schon lange nicht mehr hatte stutzen lassen, und seinen Vollbart, der seit einiger Zeit von grauen Strähnen durchzogen war. Und das schon mit Mitte 30! Marian fand das ungerecht, wie so vieles. Blöd, dass man nicht einmal dagegen protestieren konnte. Jedenfalls nicht, ohne sich lächerlich zu machen.
Er bestieg einen der Inselbahnwaggons – einen roten, aus Prinzip – und ließ sich auf den nächstbesten freien Platz plumpsen. Die Holzbank war hart und unbequem, aber die Fahrt würde ja nur ein paar Minuten dauern. Eine winzige Gnadenfrist, ehe die Tretmühle wieder losging. Nur nicht wieder so ein Chaos wie gestern! Am besten, er legte sich früh auf eine Titelstory fest, damit es abends nicht wieder so eng wurde.
Auch auf der Bank ihm gegenüber nahm jetzt jemand Platz. Im selben Moment ruckte die Bahn an und schaukelte los. Marian hob den Kopf und musterte seinen Mitpassagier. Sommersprossen, abstehende Ohren, rotblondes, zu Stacheln gegeltes Haar – das war doch Jannik Bartels, der lustige, kleine Koch! Eindeutig, dachte Marian. Nur sah er überhaupt nicht lustig aus.
»Hi! Was machst du denn hier? Boot verpasst?«
Der Koch zuckte missmutig die Achseln. »Da war nichts zu verpassen.«
»Ähh … was?«
Nicht einmal Marians begriffsstutzige Miene konnte den Sommersprossigen aufheitern. »Als wir um 4 Uhr wieder am Anleger waren, war da kein Boot mehr. Weg! Futschikato! Geklaut! Und wir standen da wie Pik doof und mussten in der Kälte auf die erste Morgenfähre warten.«
»Dein Boot ist geklaut worden? Mitten in der Nacht?«
»Natürlich nachts! Wann würdest du denn ein Boot klauen, etwa am helllichten Tag?« In hilfloser Wut ballte der junge Koch die Fäuste. »Und von wegen mein Boot! Es war doch das von meinem Chef. Der wird mir die Hölle heißmachen, da kannste einen drauf lassen. Das wird kein Spaß für mich heute.« Bei diesem Gedanken sank er förmlich in sich zusammen.
Bootsdiebstahl, überlegte Marian, war doch für einen Insulaner bestimmt so ähnlich wie Pferdediebstahl für einen Cowboy. Ein Kapitalverbrechen. Eindeutig ein Thema für eine Inselzeitung.
»Weißt du was«, sagte er, »ich geb dir erstmal einen Kaffee aus. Mit Brötchen, die Bäckereien haben ja um diese Zeit schon offen. Und dann erzählst du mir alles noch einmal in Ruhe. Ein bisschen Zeit hast du doch noch. Einverstanden?«
Wieder zuckte Jannik Bartels die Achseln. Marian nahm es als Zustimmung. Ausgezeichnet, dachte er. Einen Aufmacher hätte ich schon mal. Mein zweiter Tag als Inselredakteur fängt deutlich besser an als mein erster.
4.
Stahnke hasste es, zu spät an einen Tatort zu kommen. Absperrung, Identifikation, Fotos, Spurensicherung, Personalienfeststellung und Zeugeneinvernahme, erste Untersuchung des Opfers, schließlich Abtransport der Leiche – alles war bereits erledigt, jeder hatte sich ein Bild von der Lage gemacht, alle kannten sich aus. Bloß er nicht, Stahnke, Leitender Ermittler des 1. Kriminalfachkommissariats. Er war wieder einmal auf die loyale Zuarbeit seines Kollegen Kramer angewiesen. Den mochte er, keine Frage. Aber die Situation an sich, die hasste er. Und dass sie wieder einmal an einem sogenannten freien Tag eintrat, machte die Sache nicht besser.
Kramer funktionierte tadellos. »Der Tote ist ein gewisser Waldemar Wallmann. 36 Jahre, wohnhaft in Leer-Loga. Inhaber der Firma Personal Flexibility. Unverheiratet, keine Kinder. Jedenfalls keine, von denen wir wüssten.«
Stahnke hob die Augenbrauen – der letzte Zusatz schien ihm erklärungsbedürftig.
»HWG«, erläuterte Kramer. »Häufig wechselnder Geschlechtspartner. Der Hafenmeister kannte ihn ganz gut. Wallmanns Boot liegt schon seit ein paar Jahren hier. Vielmehr seine Boote; er hat sich wohl öfter mal ein neues gegönnt. Ebenso wie eine neue Freundin.« Kramer blätterte in seinen Aufzeichnungen: »Neue Freundinnen sogar häufiger als Boote.«
»Mit diesem Vergleich kämst du bei Sina aber nicht besonders gut an«, tadelte Stahnke. »Ein Mensch ist kein Ding, das man besitzen kann. Was sagt denn deine Insa dazu?«
Kramer blickte zur Seite. »Gemäß deiner eigenen Belehrung ist deine hier unangebracht«, murmelte er. »Und außerdem, sie ist sowieso nicht mehr meine.«
»Ach.« Dabei hatte sich Kramers Beziehung mit Insa Ukena, der Kollegin, die auf Langeoog Dienst tat, doch so vielversprechend angelassen, fand Stahnke. Er hatte schon gewitzelt: »Demnächst könnten wir eigentlich mal einen Familienpass für die Inselfähre beantragen, aber einen für Großfamilien.« Und sich gefreut, dass Kramer, dem seine Trennung von Frau und Tochter immer noch zu schaffen machte, auch wenn er es nicht zeigte, endlich wieder etwas Festes gefunden hatte. Tja, so konnte man sich irren.
»Ein Don Juan also«, nahm der Hauptkommissar den dienstlichen Faden wieder auf. »Ist ja nicht verboten. Aber man macht sich nicht unbedingt Freunde auf diese Art.« Bei der Suche nach einem Tatmotiv wäre das schon mal ein Ansatz. »Woher wissen wir überhaupt den Namen? Hat dieser Hafenmeister ihn identifiziert?«
Kramer nickte. »Er hat ihn gefunden, heute früh bei Niedrigwasser«, ergänzte er. »Der Tote hatte aber auch alle Papiere bei sich. Ausweis, Führerschein,