Der Regengott und andere Erzählungen. Alvydas Slepikas

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Der Regengott und andere Erzählungen - Alvydas Slepikas

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      Die Übersetzung des Buches wurde von „Books from Lithuania“ mit Mitteln des Kulturministeriums der Republik Litauen gefördert.

       mitteldeutscher verlag

      Alvydas Šlepikas

      Der Regengott

      und andere Erzählungen

       Aus dem Litauischen von Markus Roduner

       Für meine Tante Malenija, der ich noch einmal zu begegnen hoffe

      Die Angler

      Hier gibt es keine Aha-Erlebnisse. Hier, in unserem Städtchen. Alle, die es hierher verschlägt, sagen, es sei gemütlich. Das mag stimmen. Zu beiden Seiten der Hauptstraße wachsen mächtige, alte Bäume, deren knorrige Wurzeln sich den Boden entlang ranken und den Asphalt aufreißen, und aus den Fenstern der alten Häuser, die Brände und Kriege überlebt haben, schauen traurige alte Frauen, abends scheppern die Eimer und die Kühe muhen. Gleich hinter der hübschen Renaissancekirche in der Mitte des Städtchens befinden sich die Bäckerei und die Schule, die von Jahr zu Jahr weniger Schüler zählt, das Büro des Seniūnas, des Vorstehers unseres Städtchens, an dessen Wand stets die litauische Trikolore weht, sowie das Kulturzentrum, in dem es schon seit einiger Zeit still ist. Weiter weg vom Zentrum steht am Ufer eines ziemlich großen, binsenumwachsenen Teiches das öffentliche Badehaus, in dem sich am Wochenende fast alle im Städtchen treffen – die Frauen freitags, die Männer samstags.

      Wer aus lauter Langeweile durch die leeren Straßen des Städtchens streift, trifft hier unweigerlich auf zwei Personen, die tagein, tagaus unweit des Badehauses wie angewurzelt am Teichufer stehen und angeln. Ab und zu wechseln sie ein paar Worte, rühmen den anderen, wenn er einen größeren Fisch gefangen hat, von denen es hier nicht gerade wimmelt – allein die winzigen gelben Teichkarauschen, die, was den Köder betrifft, nicht wählerisch sind und nicht scheuen, beißen an. Der Ältere, etwas über sechzig, angelt selbst kaum, er beobachtet den Jüngeren, etwa vierzig, nimmt die von ihm gefangenen Fische von der Angel, hängt den Köder an den Haken – und das mit der allergrößten Hingabe. Der Jüngere schaut, wenn er einen Fisch gefangen hat, wie der Ältere ihn von der Angel nimmt und ihn in den Eimer gleiten lässt. Manchmal geraten sie aus irgendeinem Grund in Streit und werfen einander ein paar böse Worte zu, ab und zu schabt der Alte einer Karausche bei lebendigem Leib die Schuppen vom Rücken, bestreut sie mit Salz, beißt genüsslich den fleischigsten Teil des Fischleins ab und wirft den Rest zur Seite, wo für gewöhnlich schon eine gewiefte Mieze darauf wartet. Meist sitzen die beiden schweigend da und ihre Gesichter leuchten ruhig; sie werfen die Angel aus und beobachten den Schwimmer, das Wasser des Teiches, die Wasserläufer auf seiner Oberfläche – das Leben steht nicht still. Würdet ihr diese zwei schweigenden Menschen beobachten, so könnten die beiden euch so vorkommen, als hätten sie etwas Wichtiges, Wesentliches, Ewiges und Beständiges begriffen. Ihr würdet sie wohl kaum anzusprechen und die rundum herrschende Ruhe zu stören wagen. Vielleicht spüren die Bewohner des Städtchens ja dasselbe, wenn sie zum öffentlichen Badehaus oder aus einem anderen Grund an ihnen vorbeieilen, denn nur der eine oder andere grüßt die beiden mit einem Kopfnicken, die meisten aber gehen an ihnen vorbei wie an leblosen Dingen, wie an Bäumen oder Baumstrünken. Die beiden Schweigenden haben zwar jeder seinen Namen und teilen einen Nachnamen, aber im Städtchen nennen alle sie nur noch „die Angler“.

      Würdet ihr euch dazu entschließen, einen der Einwohner anzusprechen und ihn nach den zwei seltsamen Männern zu fragen, die da beim öffentlichen Badehaus angeln, wärt ihr wahrscheinlich erstaunt, dass niemand sie mag. Der eine würde lachen, der andere sagen, sie seien gottlose Kerle, die nicht zur Weihnachtsbeichte gehen, noch andere, sie seien ganz einfach Dummköpfe, und dann gibt es noch welche, die wären verärgert über eure Frage. Dennoch würden alle in etwa dieselbe Geschichte erzählen.

      Die beiden Motūzas lebten am Rande des Städtchens, hinter der Kirche und dem Schülerheim. Ihre alte und ungestrichene Holzhütte stand zwischen den Häusern des Organisten Augustinas und der einzigen Polin des Städtchens, der Milchfrau Maryla. Die alte Maryla und die anderen älteren Einwohner der Stadt können sich noch gut an Elena erinnern, die Frau des hinkenden Motūzas, die Mutter von Algis Motūzas – eine gutherzige, fromme, aber unterdrückte Frau ohne Stimme. Wenn sie im Städtchen auftauchte, trug sie oft ein dunkles geblümtes Kopftuch, das beinahe das ganze Gesicht bedeckte – alle wussten, dass Elena blaue Flecken und Blutergüsse versteckte. Ihr Mann, der damals noch nicht lahm war, schlug sie beinahe täglich, brutal und erbarmungslos, während Algis, damals noch ganz Kind, sich fast jeden Tag vor Vaters Wutanfällen im Häuschen des wahnsinnig bösen Schäferhundes Dikas, in der Scheune oder bei den Nachbarn versteckte. Und eines Tages sah der örtliche Intellektuelle Štencelis, als er mit seinem Enkel Kęstas im Kiefernwäldchen am Rande des Städtchens auf Pilzsuche war, Elena an einem Kiefernast hängen. Kęstas berichtete darauf den Jungen im Städtchen von der blauen Zunge der Motūzienė, dem Schaum vor dem Mund und den verdrehten Augen. Es gab keinen, der Elena verurteilte, sie tat allen leid. Sogar unser von allen geliebter grauhaariger Pfarrer segnete zwar nicht das Grab, stand aber in Zivil etwas abseits der anderen auf dem Friedhof, schaute zu, wie der Sarg ins Grab hinabgelassen wurde, und betete. Die Einwohner des Städtchens kehrten nach der Beerdigung nach Hause zurück und sprachen davon, dass sich jetzt etwas im Leben des Hurers und Schlägers Motūzas ändern müsse, denn auch ein so böser Mensch habe doch ein Gewissen, das ihn des Nachts nicht einschlafen lasse. Da täuschten sie sich schwer. Nichts änderte sich im Leben jenes Mannes, außer vielleicht, dass er jetzt noch offener herumhurte, die Schlampen mit nach Hause brachte und mit ihnen vor den Augen seines Sohnes verkehrte. Schon wenige Wochen nach dem Tod seiner Frau – Gott sei ihrer Seele gnädig – verwickelte sich Motūzas in eine Schlägerei mit den Brüdern Žegunis und drohte ihnen, zünftig betrunken, mit einem langen deutschen Messer, doch die Brüder waren nicht auf den Kopf gefallen: Der mittlere namens Vladas packte zur Verteidigung ein Brecheisen und brach seinem Gegner nicht nur zwei Rippen, sondern zertrümmerte ihm auch ein Bein. Aus dem Krankenhaus kehrte Motūzas als Invalider zurück und die Leute im Städtchen sagten zu sich, sieh nur, Gottes Strafe. Der Alte fertigte sich einen schweren Eichenstock, änderte aber nicht seine Lebensweise, auch wenn er ruhiger wurde. Als plötzlich die Scheune der Brüder Žegunis wie eine Streichholzschachtel in Flammen aufging, zweifelte niemand daran, wer dafür verantwortlich war. Motūzas war auch weiterhin ein bösartiger, unersättlicher, die Frauen besteigender Hengst, der Schreck aller Kinder im Städtchen – der Mann, der niemals lächelt.

      Algis fürchtete seinen Vater. Er wuchs als reizbarer und nervöser Junge heran, hatte keine Freunde, die einzige Person, die er besuchte, war die alte Maryla. Sie gab ihm Birnen und Beeren aus dem Garten, brachte ihm bei, wie man auf Polnisch „Guten Tag“ und „Danke“ sagte. Zum Ablassfest schenkte sie ihm farbige Heiligenbildchen, die er zu Hause wegwarf. Obwohl Algis kein schlechter Schüler war, mochte ihn keiner – weder die Lehrer, denen gegenüber er abweisend war, noch die Schüler, die er verprügelte und ihnen die Kopeken wegnahm. Sonst schwieg er meist, war wortkarg wie ein alter Mann, mit dem Vater ging er wie mit einem Fremden um, das Einzige, was sie verband, war Angst. Nach dem Abschluss der Volksschule besuchte er die Berufsschule, arbeitete darauf als Elektriker, leistete seinen Militärdienst ab und kehrte als gereifter, gut aussehender Mann zurück, dem nicht wenige Frauen und Mädchen hinterhersahen, doch nicht eine von ihnen wagte, Algis nach Hause mitzunehmen, und auch nur selten begleitete er eine von ihnen. Der lahme Motūzas aber blieb, wie er war, und es schien so, als könnte die Zeit ihm nichts anhaben.

      Als Gintas, der Direktor des örtlichen Kulturhauses, mit einem zünftigen Rausch auf einem geliehenen „Woschod“-Motorrad eine Studentin aus Vilnius überfuhr und deswegen ins Gefängnis kam, stand das Haus der Kultur für einige Zeit leer. Nach ein paar Monaten aber bekam es eine neue Direktorin. Eine von auswärts, mit dem lustigen Familiennamen Kriaušytė – Birnlein. So sah sie auch aus: wie eine pausbackige Birne. Jung,

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