Ketzerhaus. Ivonne Hübner
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Sie trippelte auf der Stelle, als übte sie eine Courante, obwohl sie nicht wissen konnte, wie man sie tanzte. Der Sandweg war so aufgeheizt. Wenn sie nicht die Grasbüschel traf, brannten ihre Fußsohlen. Den Krug umklammerte die Kleine. Kein Tropfen durfte verloren gehen. Sie musste ihn zum Schauplatz tragen. Dort würde ihre Mutter die Brui verkaufen. Das hatte der Herr Vater so aufgetragen.
Er, Johannes Mälzer, hoffte auf das große Geschäft an diesem Tag. Einem Tag, an dem eine Schauhinrichtung für Abwechslung sorgen sollte. Das Mädchen, das behänd den Weg entlanghüpfte und das Krügelein balancierte, hatte keine konkreten Vorstellungen davon, was es bedeutete, zum Tode verurteilt zu sein. Sie hatte ihre Mutter mit den Weibern aus dem Dorf sprechen hören. Man äußerte sich erstaunt darüber, dass sich die Unholdin Margarete Rieger ausgerechnet das Wasser zu diesem Zwecke erwählt hatte. Die Kleine aber erstaunte es, dass ein Mensch nicht durch Gottes Hand, sondern durch Menschenhand hinübergeführt werden würde. Und wieso ertränken? Weil einem dann niemand beim Sterben zusehen konnte? Sie hätte niemals Ertränken ausgewählt. Das Mädchen war nicht in dem Alter, abzuwägen, auf welche Todesart ihre Wahl fallen würde. Sie war nicht in dem Alter, Vor- und Nachteile zu ermessen. Beim Erwürgen konnte man zumindest sitzen.
Am Tage Marci, dem fünfundzwanzigsten des Ostermonds, sammelte sich nun also das halbe Dorf am Fluss mit Namen Weißer Schöps und der Krug wurde schwer.
Der Schöps kam vom Süden, vom Eigen, führte dunkelgrünes Wasser, roch eigentlich nach Gras und war an einigen Stellen so tief, dass man fürchten musste, er sei von Querxen und anderen Gestalten bevölkert. Den Mälzerhof fand man am Schwarzbach im südöstlich von Horka gelegenen Mückenhain. Dort floss das Wasser stetig. Unaufgeregt.
Des Mädchens Augenmerk galt dem Krug und nichts als ihm. Das bauchige Gefäß in ihren schmalen Händen wurde immer schwerer. So schwer. Die Kostbarkeit, für die sie Verantwortung trug, war unter einem festgezurrten Tüchlein vor Schmutz und Fliegen geschützt. Ihm entströmte der saure Geruch, der überall in ihrem Elternhaus hing und legte sich über den zarten Duft der ersten Blüten am Feldrain.
Von Ferne war dies sensationslüsterne Rufen und Lachen zu hören. „Du wirst gut hinsehen, wenn es so weit ist!“, hatte ihre Mutter gemahnt. Aber noch war es nicht so weit. Vorerst machte man aus dem Spektakel ein Fest.
Der Karren mit der Hexe wurde aus Görlitz erwartet. Ehebrecherin, Mörderin hatte der Vater die Unholdin genannt. Die Frauen im Dorf soll sie verhext haben, damit die ihre Kindlein des Nachts im Bette ersticken oder sich gar von dem falschen eines machen ließen. Der Teufel hatte seine Buhlin unfruchtbar gemacht, damit ihr Mann die Ehe schied und die Hexe verbannte. So erst konnte sie ihr wahres Werk vollenden. Oben auf dem Weinberg hatte man sie zum Einsiedler gesteckt. Nur wenige Monate war sie dort geblieben. Doch der Alte hatte die Riegerin keines Besseren belehren können: Sie brachte trotzdem Bauer Rieger um. Und da für musste sie jetzt ins Wasser des Schöps’, der doch nichts dafür kann.
Ihr linker Arm war taub. Das Mädchen blieb mitten auf dem Weg stehen und stellte das kostbare Gut vor seinen Füßen ab. Und, dass du dich bloß beeilst!, hallte Vaters Stimme nach. Die Sonne stach im Nacken.
Die Kleine drehte sich um, sah zuerst die Staubwolke aufwirbeln, wie wenn die Mutter die Strohmatten ausklopfte, dann erst das johlende Rudel Halbwüchsiger nahen. Mädchen waren auch dabei. Älter als sie und ohne Krug unterwegs.
Als Nächstes spürte sie ihren Hintern im Sand aufschlagen und einen dumpfen Schmerz im Steiß. Die Horde hinterließ Fußabdrücke im knisternden Schaum, der sich zu einem Rinnsal vereinte. Aller Fußabdrücke, außer von zweien. Zwei blieben stehen, unschlüssig zwar, ob sie den anderen folgen sollten, entschieden sie sich letztlich zu bleiben.
„Hast du dir wehgetan?“
„Lass mich in Ruhe, Andres!“, ging das Mädchen den an, der es offenbar gut mit ihm meinte, von dem es aber keine Hilfe wollte, weil der Vater gesagt hatte, die Hinterthurs können mehr als nur Wasser kochen. Sie rückte den verrutschten Reif auf ihrem Haar zurecht.
„Ach, komm schon, Els.“ Aber Elsa begann zu weinen, weil sie sich schämte und müde war und der Krug leer. Sie weinte, wie es eben Mädchen von zehn Jahren tun. Sie hob aber nicht den Blick, sondern schaute den sich in den Staub grabenden Perlenschnüren zu, wie sie ein Löchlein, eine Unebenheit suchten, um zu versacken, und keine fanden, weil es seit Tagen nicht geregnet hatte.
Die beiden Jungen, die stehengeblieben, waren Brüder. Das schloss man aus den dunkelbraunen Strähnen im halblangen, leicht gelockten und widerborstig verknoteten Haaren und den schmalen Gesichtern. Beide guckten die Jüngere unschlüssig an. Ein weinendes Mädchen ist keine einfache Angelegenheit. So wurde sie vom Älteren, Blasseren und Unscheinbareren verunsichert, vom anderen eher belustigt gemustert.
Die Verhältnisse zwischen den Nachbarsleuten Mälzer und Hinterthur waren kompliziert. Obschon zwischen beiden Gehöften nicht nur besagter Weinberg, sondern auch der Schwarzbach, einige schmale Hufen und ein verschlungener Pfad durch ein Waldstück führten, waren es immer noch Nachbarn. Nachbarn, die einander inniglich verachteten. „Hau ab!“, schrie das Mädchen und nahm allen Mut zusammen, den Jungen ihr allerbösestes Gesicht zu zeigen. Das machte es nur noch schlimmer.
Jost, der jüngere der beiden, neigte sich zu ihr hinab. „Na komm, steh auf.“
Sie nahm seine Hand, weil er hübsch war. „Ihr könnt eurem Vater schöne Grüße bestellen, dass dem Mälzer nun der letzte Schluck ausgegangen ist!“ Sie war nur ein Mädchen, wusste aber, dass mit diesem letzten Tropfen, das Ausschankrecht ihres Vaters verwirkt und der Nächste an der Reihe war, sein Rezept anzurühren.
„Komm mit, ich hab eine Idee“, hob Jost an und bückte sich nach dem Krug. Das sture Kind in Elsa entwendete ihn ihm.
„Ich will deine Ideen nicht, ich will die Briu meines Vaters zurück!“
„Hör endlich auf zu heulen. Komm mit.“ Jost nahm entschlossen den Krug. Beide Buben schlugen dann die Richtung ein, aus der sie eben gekommen waren.
Im Abstand von fünf Fuß folgte die Kleine ihnen, denn schlimmer, als ohne Suppergeld nach Hause zu kommen, war es, ohne Geld und ohne Krug zurückzukehren.
Andres Hinterthur, zwei Jahre älter als sie, ließ sich zurückfallen und ging neben ihr her. Er war groß für sein Alter und hager. Anders als der Jüngere, der das Haar lang über die Schultern trug, verwegen wie ein Städter, reichte Andres’ Kopfkraut, das sich noch entscheiden musste, ob es einmal gelockt oder gesträhnt wachsen wollte, jedoch krumm wie Grashalme fiel, bis zu den Ohren. Während Jost Hinterthur selbstbewusst und unbehelligt vor ihnen her schritt, passte sich Andres scheinbar ihrem vorsichtigen Gang an. „Ihr führt mich ab, wie eine, die was Unrechtes gemacht hat“, murrte Elsa. Sie bekam keine Antwort vom Jungen. Jost hatte sie nicht hören können. „Euch entgeht das Spektakel!“, setzte sie gehässig einen oben drauf. „Mein Vater sagt, wer das Sempel sich nicht anschaut, wird selber zum Verbrecher.“
„Du meinst wohl Exempel. Es ist Blödsinn“, murmelte Andres.
„Willst du sagen, mein Vater lügt?“ Elsa, kühn, holte den Schritt nach links auf und rammte ihm die Schulter in den Oberarm. Vom Mädchenrempler blieb Andres ungerührt. „Nein, ich sage, dass das Zuschauen an sich schon einen schlechten Menschen aus einem macht, uns von bösen Taten aber nicht abhält!“
Elsa fiel nichts