Hunderteins EinSatzgeschichten. Nele Heyse

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Hunderteins EinSatzgeschichten - Nele Heyse

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100 Entscheidung

       101 Heimat

       Zugaben

       001 Reinigung

       002 Schlussstrich mit Perspektive

       003 Ente, Trente, Argumente …

       Autoren

       Impressum

       SÄTZE WIE SMARTPHONE = FOTOS

      »Lass mich nur noch einen einzigen Satz dazu sagen!«, rief er der Frau aus dem Flur hinterher. »Wieso nur einen Satz? Was ist denn los mit dir?«, die Frau stemmte die Arme in die Hüften und sah den Mann provozierend an.

      »Weil schon alles gesagt ist«, schrie er, »tausendmal gesagt, und es hat nichts genützt!« – »Na da bin ich ja beruhigt, dass der Herr wenigstens noch mit mir spricht, wenn auch nur mit einem einzigen Satz!« Er knallte die Tür. Den Satz, falls er ihn auf der Treppe gesprochen haben sollte, konnte die Frau keinesfalls verstehen. Also hegt sie Hoffnung, dass er wiederkommt und es nicht der letzte Satz war. Denn der letzte Satz ist ein Satz, bei dem der Punkt beinahe wie eine Pistolenkugel geschossen kommt. Finitum.

      Dieses Büchlein hat nur letzte Sätze. Genauer gesagt: Anfangssätze, die zugleich Schlusssätze sind. Satz- und Spielball. Also ein Spiel.

      In unserer ach so schönen Welt schlagen wie Kometenstürme Sätze, die an keinen Punkt kommen, Schneisen in unsere Ohren: Talk-Shows, Statements, Gebrauchsanweisungen, Wahlprogramme – das unablässige Klappern der Gebetsmühlen des Selbstbewusstseins. Hastig kostümierte Gedanken beim Maskenball der Moden verschwinden unter der Last der Buchstaben. Archäologen aller Länder, bewegt Euch! Grabt aus unter der klappernden Sprache die Welt. Die Politiker haben die Welt nur verschieden beredet – es kömmt darauf an, sie zu sehen. Aber wohin richtet sich der Blick? In die Weite? Kurzsichtig? Umsichtig? Nachsichtig? So ein kleines Detail, eine Winzigkeit im Mikrokosmos, Lichtjahre entfernt von den Wimpern kleinster Atome, leicht zu übersehen, leicht zu vergessen. Details, nichts als Details bilden die Welt.

      Hier in diesem Büchlein werden sie gesammelt mit kleinem Focus, wie ein schnell geknipstes Foto mit dem Smartphone. (Wir sehen die Heere mit den verlängerten Taranteln, an denen Telefone hängen, die längst keine Telefone mehr sind, in allen Städten der Welt, und nur das gespeicherte Bild scheint die Wahrheit zu gewährleisten, dass man es wahrhaft gesehen hat.) Kleine Momente, ganz kleine, sehr kleine und klitzekleine und so wie die Kinder über das Touchscreen wischen (ob sie später noch wissen, dass früher die Bücher umgeblättert wurden?), so schieben wir uns aus einem Bild in das andere und es fallen uns Geschichten ein, Augenblicke, an die uns die Bilder verweisen. Was soll uns das lachende Gesicht auf dem Friedhof beweisen? Was erzählt uns das leere Bett? Nur unsere Erfahrungen vermögen das Pixelgewirr mit Sinn vollzuladen. So auch Sätze, die einen Punkt finden, die einen Schluss haben. Den Sinn einer Sache, meinte Hegel, erkenne man nur an deren Schluss. Also stellen wir uns auf den Hügel, der nicht größer ist als ein Punkt am Ende des Satzes, und denken zurück auf den Weg der Buchstaben, die sich um das eine und andere Komma winden, die Vokale mit ihrem schönen melodischen Sinn und die Konsonanten, diese Perkussionsmaschinen der Sprache. Wir lesen, und schon sind wir erschrocken, denn das Ende, der Punkt, das Schweigen erscheint plötzlich. Gewöhnt an die Ausführlichkeit, diese nicht enden wollende Geschwätzigkeit, die uns über die Abgründe hinwegtröstet mit der Virtuosität eines Paganini=Capriccios, verdeckt nach dem viel zu schnell erscheinenden Punkt das Schweigen wie einen Schreck. Es tröstet uns keine Pointe, wie beim Witz, beim Aphorismus, beim Bonmot. Wir stehen ratlos da, oben auf dem Punkt des Satzes, am Ende und mit der die Stimme hebenden Frage »Was nun?« öffnet sich eine kleine Tür. Aber wohin sie führt, das vermögen uns nicht einmal die schnell geknipsten Bilder des Smartphone zu verkünden. Das müssen wir selber finden. Das wäre der Schritt zurück: von den Bildern in die Welt.

      Hans-Eckardt Wenzel

      Bugewitz, im Juli 2017

       1

       DER GESCHICHTENERZÄHLER

      »Ein Tag ohne Geschichte ist wie ein Kopf ohne Gesicht, du wirst dich nicht erinnern können, nur von einem dunklen Etwas wissen, nicht einmal wirklich, ob dies rund war«, sagte der Geschichtenerzähler, holte aus, einen Halm aus dem Fluss zu ziehen, an dem sich ein Käfer festgebissen hatte, um dann von der Moldau zu erzählen, die durch Prag fließt, wo einmal ein großer Kollege von ihm Schwierigkeiten mit seinem Vater, seinem Büroalltag und seinen Brieffreundinnen hatte.

       2

       VERTRAUEN

      Um sie durch die Hölle zu führen, nimmt er sie bei der Hand, verspricht ihr den Himmel, den sie nie verloren glaubte.

       3

       DIE FRISCHGEBACKENE FAMILIE

      Als die Frau mit dem Neugeborenen nach Hause gekommen war, die erste Nacht den Eltern nur leidlich Schlaf beschert hatte, reichte am Morgen der dennoch glückliche Vater der dennoch glücklichen Mutter nach dem Duschen ihren Bademantel, an dem die Ärmel umgeschlagen waren, sodass er nicht mehr passen wollte und sie ihre Nase in den fremden Geruch am Kapuzenrand vergrub, da ihr Tränen in die Augen trieben.

       4

       TRAUERBEWÄLTIGUNG

      Dass der Schmerz der Witwe plötzlich geringer und geringer wurde, ja, fast zum Erliegen kam, war nicht dem Trost ihrer Freunde anzurechnen, die den Tod des Mannes zumindest für ihn als Geschenk verstanden wissen wollten, da er eines Morgens, ohne vorherige Qualen erlitten zu haben, einfach nicht mehr erwachte, sondern der in verzweifelte Tränen aufgelösten, völlig fremden Frau am Rand des Grabes auf der Beerdigung.

       5

       LEBENSSINN

      Da er nicht wusste, wovor, und erst recht nicht, vor wem er warnen sollte, aber nun mal eine Trillerpfeife besaß, erzählte er den Leuten vom schwarzen feuerspeienden Mann, trieb sie um den Dorfplatz, ihr eigenes Feuer zu entfachen und bekam einen ihm in großer Zuneigung verbundenen Freund, der sich sein Leben vom Vertrieb neuester Bewegungsmelder und Alarmanlagen finanzierte.

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