Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther
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Verlautbarungen der marxistischen Partei: … stets haben wir recht behalten … die Partei, die Partei hat immer recht. Marx aber schrieb: „… die Kommune machte keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit, wie dies alle die alten Regierungen ohne Ausnahme tun. Sie veröffentlichte alle Reden und Handlungen, sie weihte das Publikum ein in alle ihre Unvollkommenheiten.“ Marx vermurkst.
1.9.75
Grotesk die geistige Defensive der Gesellschaft, die vorgibt, der anderen um eine ganze Epoche voraus zu sein. Bitter die Unmündigkeit des Volks, das, theoretisch, das Sagen hat. Anachronistisch das Einzäunen des befreiten Menschen.
7.10.75
Die Umgangsformen unserer Repräsentanten werden immer bürgerlicher, schlimmer noch: feudalabsolutistischer: Jagdrechte, eingezäunte Absonderung, Staatskarossen, gestaffelte Privilegien, Hofhaltung, Protokoll bis hin zu Zeremonien. Wieso glauben sie, diese Formen übernehmen zu müssen, sich zu absentieren, um zu repräsentieren? Gehören die Repräsentanten der Klasse eigentlich noch zur Klasse? Wäre nicht vorstellbar, sie gingen ins Freibad Pankow, wenn sie schwimmen wollten, säßen mitten im Parkett, nicht in der Fürstenloge, äßen, was alle essen, schirmten sich nicht ab vorm Volk, dessen Teil zu sein sie unablässig behaupten?
16.2.76
„Kramladen“ in Weißensee: eine Veranstaltungsreihe, getragen vom Publikum, wird abgewürgt. Bettina W. darf nicht auftreten, Klubhausbeirat wird einfach aufgelöst, die Auflöser sind selbstredend nicht anwesend, nur Stellvertreter: der Dr.-Dichter W., die Stasi und jede Menge bestellte Claqueurs. Die Dogmatiker siegen, der Sozialismus verliert ein weiteres Mal.
30.3.76
Die Utopie lebt als Axolotl in den abgesoffenen Uranschächten des Erzgebirges, bleich und blind.
20.4.76
Die hiesigen Medien lassen die Sonne ununterbrochen scheinen. Dadurch republikweit Bodenerosion, fehlende Feuchte, kein reinigendes Gewitter. Wo die Luft derart trocken ist, wird exzessiv gesoffen. Das Land dürstet nach Wahrheit, die Spiegel sind mit Parolen überklebt, die Ohren verstopft mit ideologischen Wortpfropfen, Sprachknete erschwert das Vorwärtsgehen. Die Arbeit der Vielen, die Macht der Wenigen.
25.8.76
Preußischer Sozialismus: freudlos, grau, militant, verbeamtet, ohne Spontaneität und Humor, eng, intolerant, eckig, von ärmlicher Ölsockel-Sauberkeit. Klingelnde Worthülsen: ewig, heilig, grenzenlose Treue und Ergebenheit, absolutes Vertrauen, unverbrüchliche Freundschaft, ruhmreich, volle Übereinstimmung …
30.11.76
Schwarzer November. Anfang: Einberufung zur Armee, ein halbes Jahr. Ende: Ausbürgerung Biermanns. Verhöre durch Stasi-Offiziere, die sogenannten VO (Verbindungsoffizier, Jargon: Vau-Null) der Armee, die das Gespräche nennen. Ur-Ängste: Demütigung und Bedrohung.
13.1.77
Stimmung im Lande: Resignation, Sich-abfinden mit nichtfunktionierender Infrastruktur (Mangel, Bürokratisierung), Immunität gegen Medienjubel, subjektive Überlebensstrategien: Korruption, Schiebereien, Rückzug ins Private. Die listige Gleichgültigkeit des Mündels Volk. Der Zusammenhang zwischen Mündigkeit, Verantwortlichkeit und Kreativität! Stattdessen: Vernichten der Basisinitiativen, Züchten der Uninteressiertheit, lieblose Geschmacklosigkeit, Zudecken der Fehler mit Polit-Posaunen, autoritäre Erziehung, Überwachung, fehlende Öffentlichkeit, Rechtsunsicherheit, deshalb die wuchernde Staatssicherheit.
8.4.77
Auf dem nächsten Schriftstellerkongress wird es zu Mittag vermutlich Pferdefleisch geben, weil dort zum Auftakt Pegasus geschlachtet werden wird.
29.3.78
Interview mit „Sonntag“. Als der Redakteurin meine Antworten nicht gefallen, beginnt sie (Das müsste man besser so sagen …), die ihren aufzuschreiben. Als ich gegen ihr Selbstgespräch protestiere, erklärt mir der Chefredakteur, dass sich der Klassenkampf ständig verschärfe und der Klassenfeind nebenan auf jegliche Blöße laure. Kein Dialog, die Tür ist zu, die Gesellschaft geschlossen.
14.4.78
Antwort eines Kreis-Funktionärs auf das Ersuchen eines Bürgers, seinen todkranken Vater in Hamburg besuchen zu dürfen: Der stirbt auch ohne Sie!
3.7.78
Unblutige Exekution, 11 Uhr morgens. Rudolf Ch., Leiter des Verlags „für kommunistische Jugenderziehung“, macht uns die amtliche, eiskalte Mitteilung, die Redaktion „Temperamente“ sei ab sofort aufgelöst. Er als Sprachrohr des Zentralrates der FDJ. In 15 Minuten wird alles zerstört an Hoffnung und Engagement: das schreiende Missverhältnis zwischen den Mühen und Freuden einer Geburt und der Kälte und Schnelligkeit des Abtreibens. Kein Dank für geleistete Arbeit, perfid: „Bei uns wird niemand auf die Straße geworfen …“ In den Medien tönt’s währenddessen vom Vertrauen zwischen Kunst und Partei: Noch nie sei es so vertrauensvoll zugegangen. Die Geschichte der Zeitschrift eine permanente Geschichte des Administrierens, des Verbots, der Zensur. Um uns das Schweigen: Weder der „Bücherminister“ noch der Schriftstellerverband rühren sich.
Anwesend wir Redakteure: Rulo, Fritz-Jochen, Mischa, Frank, Richard, ich. Keine Diskussion. Und das alles, während der Renaissance Ulbrichts, der niveaulosen Arbeiterfestspiele (genannt Fest der Lebensfreude), der Verteilung der Staatspreise an die staatstragenden Kollegen, der Verurteilung Bahros wegen Landes- und Geheimnisverrats, der Einführung eines militärischen Pflichtfachs an den Schulen. Abschied nehmen von dem illusionären Gedanken, gebraucht zu werden. Gerade die Linken stören, weil sie auf der Utopie bestehen. Mitläufer, Heuchler, die schweigende Mehrheit sind problemlos zu regieren. Vita intra muros.
17.8.78
Heiner H. wird als Cheflektor abberufen. Zusammenspiel von Blockpartei, Stasi und Büro Hager. Nach der Redaktion nun auch im Verlag der Kahlschlag der Politpuristen.
30.8.78
Weitsicht: Unbeirrt / voranschreitend sehen wir / wie sich das Ziel / entfernt
7.6.79
Neun Kollegen werden aus dem Verband ausgeschlossen. Straffe Regie, die Funktionäre Hermann K., Günter G. und Gerhard H. reden von Optimismus, von der Richtigkeit der Kulturpolitik der Partei. Die Auszuschließenden lieferten dem Gegner Munition, ließen sich antikommunistisch vermarkten, schlügen die ausgestreckte Hand aus. Dann kommt die Stunde der Kollegen Scharfmacher, der Füsiliere des zweiten Glieds. Teils tragisch, teils erbärmlich. Meine Wortmeldung zu Anfang wird übergangen. Der Bezirksvorsitzende zieht die Abstimmung durch. Die vorbestimmte und vorher beschaffte Mehrheit steht. Ich sehe Leute die Hand heben, von denen ich nicht weiß, was und ob sie schreiben. Der Ergebenheitsbrief an die Parteiführung ist vorfabriziert. Wir stimmen dagegen: es ändert nichts. Wie mit diesem Tag hier leben und weiterschreiben?
20.6.79
Havemann in Fürstenwalde zu Geldstrafe verurteilt. Polizeikordon um die Stadt und Gerichtsgebäude. Ein „Post“-Entstörfahrzeug