Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer
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Diese bis heute gepflegte große Erzählung hat freilich nicht überall Zustimmung gefunden. Vor allem amerikanische und britische Forscher haben den Akzent auf die zunehmende Fragmentierung gelegt, die das konservative Lager schon in wilhelminischer Zeit zersplittert und besonders die moderateren Kräfte geschwächt habe.9 Spätestens die Führungskrise in der Deutschnationalen Volkspartei, aus der 1928 Alfred Hugenberg als Sieger hervorgegangen sei, habe dann einen Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Konservatismus markiert, an dem sich Konservatismus und radikaler Nationalismus getrennt hätten.10 Einen wesentlichen Beitrag dazu habe der radikalnationalistische Alldeutsche Verband geleistet, durch dessen Interventionen »the development of a moderate, state-supporting, mass-based conservative party« unterbunden worden sei.11 Der Aufstieg des Nationalsozialismus müsse deshalb gerade nicht als Ergebnis einer Transformation des deutschen Konservatismus verstanden werden, sondern als Folge seiner »Marginalisierung« und ›Veralldeutschung‹, die schon vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt und seine Fähigkeit beeinträchtigt habe, die radikale Rechte einzubinden und auf eine »konservative« Plattform zu verpflichten.12
Noch einen Schritt weiter ist Panajotis Kondylis gegangen. Für ihn handelt es sich beim Konservatismus nicht um eine konstante, auf Sicherung des jeweiligen Status quo ausgerichtete Einstellung, die daher unter wechselnden Umständen in stets neuen Formen auftreten kann, vielmehr um eine konkrete geschichtliche, an eine bestimmte Sozialformation – die vormoderne societas civilis – und eine bestimmte Trägerschicht – den Adel – gebundene Erscheinung, welche in dem Augenblick zu ihrem Ende kam, »als sich die Trennung von Staat und Gesellschaft (d. h. vom modernen zentralisierten und einheitlich verwalteten Staat und der vom Bürgertum beherrschten, sich rasch industrialisierenden Gesellschaft) auf der ganzen Linie durchsetzte« – ein Prozeß, der in England und Frankreich seit 1830 zu beobachten sei, in Deutschland bzw. Preußen zwischen 1848 und der Nationalstaatsgründung.13 Im Zuge dieser Entwicklung habe sich eine Art von doppelter Mimikry vollzogen. Während diejenigen, die »den Ideen des herkömmlichen adligen Konservativismus treu geblieben waren, sich bei etwaiger Beibehaltung des konservativen Schildes (alt-)liberale Grundpositionen« aneigneten, »vornehmlich in bezug auf die Unverletzlichkeit des Eigentums und der Wirtschaftsfreiheit«, hätten umgekehrt die Liberalen angesichts der wachsenden sozialistischen Gefahr immer stärkere Neigung gezeigt, »sich das ›konservative‹ Schild anzuhängen«.14 Es entspricht dieser Sachlage, wenn neuere Untersuchungen zum Konservatismus nach 1945 zu dem Ergebnis kommen, man habe es entweder mit einem Hybrid aus liberalen und konservativen Denkfiguren (mit deutlichem Vorrang der ersteren) zu tun oder mit Rückgriffen auf das Ideengut der radikalen Rechten.15 Von solchen Diagnosen unterscheidet sich Kondylis nur in der Rigorosität, mit der er den Konservatismusbegriff bereits für das Kaiserreich und die nachfolgenden Regime verabschiedet.
Über die einzelnen Schritte seiner Argumentation wird noch ausführlicher zu sprechen sein. Hier sei nur vorausgeschickt, daß dieses Buch ihr zwar in der großen Linie folgen, im historischen Detail aber einige Nuancierungen vornehmen wird. Denn auch wenn man zugibt, daß sich in Deutschland nach 1848 der soziale Träger des Konservatismus in den Rahmen einer »ökonomisch orientierten Gesellschaft« fügte und in »eine der antagonistischen Gruppen oder Klassen der neuen [scil. bürgerlichkapitalistischen] Gesellschaft« verwandelte16, so muß doch für eine längere Übergangsphase mit der Kopräsenz von Formen der Vergemeinschaftung im Sinne Max Webers gerechnet werden, die mit den Formen der Vergesellschaftung nicht durchweg harmonierten. So hat insbesondere die neuere, wesentlich von Heinz Reif angestoßene Adelsforschung nachweisen können, daß Adlige und Bürgerliche auf dem Lande bis zum Ende des Kaiserreiches, weit davon entfernt, zu einer einzigen composite elite zu verschmelzen, zwei deutlich voneinander unterscheidbare Gruppen bildeten17: zum einen durch die unterschiedliche Besitzverteilung, blieben doch die ersteren mehrheitlich im Besitz der größeren Güter und vermochten diese auch zu bewahren, wohingegen die Bürgerlichen »weitgehend den schon lange vor 1800 existierenden Markt kleinerer Güter [übernahmen], die immer wieder zwischen oft wechselnden Besitzern fluktuierten« und demgemäß nicht die Stabilität aufwiesen, die für den adligen Besitz charakteristisch blieb18; zum andern durch die nach 1848 massiv einsetzende Tendenz zur Besitzsicherung im Wege der Fideikommißbildung, die über ein Viertel der Rittergüter dem Markt entzog und zumal dem Kleinadel eine seigneuriale Lebenshaltung ermöglichte, mit dem Effekt, auf diese Weise die Verbürgerlichung der grundbesitzenden Klassen, wenn nicht zu blockieren, so doch erheblich in die Länge zu ziehen19; last, but not least sozial und kulturell durch den Ausbau exklusiver Heirats- und Geselligkeitskreise, vermöge deren der Bürger auch als Großgrundbesitzer Bürger blieb und »nicht (neo-)feudalisiert oder aristokratisiert« wurde.20 Ungeachtet aller Tendenzen zur Herausbildung einer »Elitensynthese aus Großbürgertum und den reichsten, kultiviertesten Teilen des alten Adels« blieben deshalb in Deutschland »Adel und Bürgertum […] bis in das 20. Jahrhundert hinein zwei im europäischen Vergleich ungewöhnlich deutlich voneinander getrennte Gruppen«.21
Die dadurch entstehende Spannung zwischen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung war groß genug, um Raum für Versuche zu bieten, die membra disiecta des historischen Konservatismus zu Ordnungen zusammenzufügen, in denen sich Neues mit allerlei Altem verbinden sollte, von der christlichen Religion über die Monarchie bis hin zum Ständewesen. Das geschah, eine Folge der Bildungsrevolution des 19. Jahrhunderts, durch ideologische Unternehmer, durch Intellektuelle in jenem Sinne, den Gangolf Hübinger im Anschluß an Max Weber dieser Kategorie verliehen hat.22 Allerdings betraten diese die Bühne zu einem Zeitpunkt, als sich in Deutschland ein ›literarisches Feld‹ eben erst zu bilden begann – einer Lage mithin, die ihnen nur begrenzte Möglichkeiten bot, ihre Existenz über den Verkauf geistiger Erzeugnisse auf preisregulierten Märkten zu sichern.23 Typisch für sie war deshalb die gesuchte und zeitweise auch erreichte Nähe zur politischen Herrschaft, die in zentralen Bereichen wie den Spitzen von Armee und Verwaltung noch lange vom Adel geprägt blieb. Das gilt schon für Friedrich Julius Stahl, der als Staatsrechtslehrer an der Berliner Universität und zugleich als Mitglied der Ersten Kammer bzw. des Herrenhauses wirkte; für Hermann Wagener, der jahrelang zu den engsten Beratern Bismarcks gehörte; für seinen Mitarbeiter Rudolf Meyer, der mit der Berliner Revue das wichtigste Theorieorgan des preußischen Konservatismus leitete und später im Exil adlige Sozialpolitiker der Donaumonarchie beriet; für Adolf Stoecker in seiner Doppelfunktion als Hofprediger und Vorsitzender der Christlich-sozialen Partei, in der auch der Nationalökonom Adolph Wagner eine wichtige Rolle spielte; und es gilt selbst noch für Constantin Frantz, der vor seiner Entscheidung für eine Privatgelehrtenexistenz zur Entourage des preußischen Ministerpräsidenten Manteuffel zählte und einige Jahre im diplomatischen Dienst verbrachte. Erst mit Lagarde, Langbehn, den Brüdern Mann und anderen meldeten sich Autoren zu Wort, die sich bewußt außerhalb dessen plazierten, was im weitesten Sinne des Wortes noch als »konservatives Milieu« gelten mag.
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