Eis.Leben. Birgit Sattler

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Eis.Leben -  Birgit Sattler

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frei für die Antarktis im nächsten Jahr. Diese saloppe Einladung bedeutete für mich etwas völlig Unwirkliches, der Heilige Gral schien sich zu öffnen. Tausend Gedanken überschlugen sich blitzschnell, meine Verwunderung hat ihn wenig beeindruckt, er schickte mir einige Wochen nach unserem Treffen alle Formulare, die für die Teilnahme an einem solchen Projekt nötig sind.

      Der gläserne Mensch. So dachte ich mir, als ich wochenlang von Arzt zu Arzt pilgerte, um die Blätter zu meinem Gesundheitszustand ausfüllen zu lassen. Es wird hundertprozentige Gesundheit vorausgesetzt. Verständlich, denn wie hilft man sich in solch extremen Umständen, wenn man zum Beispiel Zahnschmerzen hat? Erfüllt man diese Kriterien nicht, dann gibt es auch keine Fahrkarte ins Eis. Alkohol- und Nikotingebräuche werden abgefragt, Schwangerschafts- und Aidstest gemacht, sportmedizinische Gutachten erstellt, schlussendlich ein zahnärztlicher Befund. Der sagte mir, dass ich auf diese Reise verzichten kann mit diesem Zustand der Weisheitszähne. Die Besessenheit ließ mich schließlich drei Wochen vor der Abreise unter Vollnarkose alle Weisheitszähne entfernen. Freunde verstanden mich nicht mehr, aber dieser Wunsch, so weit südlich zu kommen, wurde zur Manie. Die Operation ist so unglücklich verlaufen, dass ich heute noch in einem Teil des Gesichtes kein Gefühl mehr habe. Eingetauscht gegen das Ticket ins Eis. Würde es wohl wieder tun.

      *

      Ich kenne noch niemanden von unserem Team, sie arbeiten alle in Bozeman, Montana. Cowboyland, wird mir erklärt. Das erste Zusammentreffen findet am Flughafenterminal statt. Was, wenn wir nicht zusammenpassen? Es dauert nicht lange, bis mich eine kleine Gruppe Männer anspricht. „You must be European“, ist ihre Begrüßung. Mir ist nicht klar, wie man eine amerikanische Frau in Jeans von einer europäischen Frau in Jeans unterscheiden kann. Der erste Kontakt. Das also ist meine „Familie“ für die nächsten Monate unter extremsten Bedingungen.

      Wir checken ein zu unserem Flug nach Auckland und Christchurch in Neuseeland. Der Flug dauert ewig. Wie verschiedenartig die Passagiere sind, die beinahe alle dasselbe Ziel haben. Viele haben einen Vertrag in McMurdo, der größten US-Basis des antarktischen Kontinents.

      Ich sitze neben einer jungen Frau, die dort für das Müllmanagement verantwortlich sein wird. Schräg vor mir eine etwas ältere Frau, sie wird in der Feuerwehrbrigade arbeiten. Feuerwehr in der Antarktis, ist das nicht absurd? Bald wird mir klar, dass der Verlust eines Daches über dem Kopf, und sei es auch nur eines Zeltes, dort lebensbedrohlich ist. Ich bin erstaunt über die Anzahl von Frauen in verantwortungsvollen Berufen. Die Männer daneben unterstehen ihnen, sei es im Hubschrauberhangar, im Lebensmittellager oder im Sicherheitsteam.

      Wir fliegen auf 10.000 Metern Höhe von einem Kontinent zum anderen, von einer Zivilisation zur nächsten, näher zum Eis. Wo wird das aufhören? Vielleicht ist die Erde in Bezug auf diese Sicherheit vorgaukelnde Zivilisation doch eine Scheibe. Denn irgendwo muss es doch aufhören, sicher zu sein, irgendwann fällt man doch runter und kann sich nicht mehr halten.

      DIE BLAUE BLUME

      Wie verändert das Eis den Menschen? Was passiert dort mit der Seele?

      Will nun nicht mehr warten. All jene, mit denen ich gesprochen habe, haben dieses bestimmte Glitzern in den Augen, als ob alle besessen wären, fast schon macht es mir Angst.

      Ich kenne diesen Blick von den jungen Bergsteigern aus meinem Dorf, habe mich als Kind oft vor diesem Funkeln gefürchtet, wenn sie bei uns zuhause auf Besuch waren und von ihren Erlebnissen erzählt, unzählige Dias gezeigt haben. Da war diese Besessenheit, diese völlige Unterwürfigkeit dem gegenüber, was ihr Denken und ihr Sein so in Besitz genommen hat – der Fels, der Berg, die Erstbesteigung, die Expedition. Es hat sie verändert.

      Manche von denen, die früher in unserem Wohnzimmer gesessen sind und sich in ihren Erzählungen vergessen haben, sind irgendwann nicht wieder heimgekehrt. Als ich noch klein war, dachte ich mir immer, der Berg hat sie jetzt gefressen und gibt sie einfach nie wieder her. Mit der Naivität des Kindes erkennt man die Realität, ungeschminkt und ehrlich.

      Mein Vater ist ein Bergsteiger. Auch in ihm erkenne ich heute noch dieses Funkeln, es ist geblieben, trotz der vielen, die sich der Berg gestohlen hat. Trotz der vielen, die man hinterher suchen gehen musste, aus dem Schnee ausgraben oder für nie gefunden erklären. Und trotz der vielen Daheimgebliebenen, denen man einen Weg durch die Traurigkeit zeigen musste. Manche sind oben geblieben in diesen Höhen, die kein Leben mehr versprechen, manche hatten das Glück, nach Hause gebracht zu werden. Ihr Fanatismus wurde am Fels, im Eis, an irgendeiner Gipfelwechte gebrochen, und doch steckt die Gischt alle an, die hinter ihnen kommen.

      Die blaue Blume.

      Seit ich denken kann, war die blaue Blume das Symbol für die Sehnsucht, weggehen zu dürfen, etwas zu suchen, es vielleicht auch zu finden. Früher hatte ich immer an diese blaue Blume geglaubt, sie blühte am Wochenende, wenn mein Vater seinen Rucksack zum Klettern packte, sie existierte in meinem kindlichen Denken sogar als tatsächliche Blume, wie ein Enzian, nur seltener und sehr scheu, so, dass man sie suchen musste, suchen wie das in einem Lichtstrahl vorbeihuschende Christkind im verschneiten Garten.

      Diese blaue Blume blühte auch meinem Wahlonkel Josl Knoll, der in meiner Erinnerung mit Schwedenbomben verbunden bleibt, die er kistenweise bei seinen Besuchen zu uns nach Hause brachte, und mit Polsterschlachten mit uns erpresserischen Kindern, die erst nach der Aufopferung der Kissen und systematischer Vernichtung aller Schwedenbomben schlafen wollten. Ich glaube, er ist immer noch auf der Suche nach der blauen Blume. Bei seinem Versuch in den Siebzigerjahren, als bis dahin ältester Bergsteiger den Mount Everest zu besteigen, ermöglichte er durch eine auf diesen Höhenmetern übergroße Geste des Verzichts seinem Freund den Gipfel. Wurde die blaue Blume aber einmal verschenkt, kommt sie nicht zurück. Vielleicht hat er es nie verwunden. Ein Blütenblatt hat er sich jedoch behalten und mir mitgebracht, indem ich seine Bilder dieses zerfurchten Gebirges sehen, seinen Geschichten lauschen durfte. Sein Freund, der gefeierte Gipfelsieger, hatte sie wohl auch gefunden, als ihm eine Tochter geboren wurde, die er nur drei Jahre lange aufwachsen sah, bis er sich wieder auf die Suche machte und davon nicht wieder zurückgekehrt ist.

      Man kann wohl seine Kinder nicht vor diesem Suchen schützen. Als ich meinen Eltern das erste Mal davon erzählte, dass ich in die Antarktis eingeladen worden sei, sah ich Angst in ihren Augen. Es tat mir fast weh, es ihnen zu sagen. Die Hoffnung, dass wenigstens eine aus der Familie dem allem fernbleiben würde, hat sich nicht erfüllt. Zugleich war ihre Freude zu spüren, es wird für mich etwas ganz Großes wahr.

      Es ist wohl oft die Unfähigkeit, an dem Ort, wo man ist, glücklich zu sein, wenn man immer noch weiter sucht. Oder die Unfähigkeit, das Glück zu erkennen. Krankhaft nennen es Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt schon gefunden haben. Mutig und nachahmenswert die, die immer die Tasche umgehängt behalten und nie ihre Schuhe abstreifen können.

      Doch was ist Mut?

      Mut, etwas aufs Spiel zu setzen, was man vielleicht gar nicht besitzt? Mut, wenn man Annehmlichkeiten verlässt? Wenn man meint, sich immer mit der Natur messen zu müssen? Wenn man meint, Rekorde brechen zu müssen?

      Mein Vater ist für mich der mutigste Mann, weil er seine sieben Leben am Berg nicht verbraucht hat. Wovon aber niemand spricht: Meine Mutter wird für mich stets die mutigste Frau bleiben, weil sie sich immer mit der Furcht vor den vielen schon gekosteten Leben konfrontieren muss.

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