Gehen und staunen. Ferdinand Karer
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Ich hab erstaunlich gut geschlafen, bin aber skeptisch aufgewacht. Silke, die Frau von Alois, hat meine Wäsche gewaschen und nach einem mehr als reichhaltigen Frühstück breche ich auf.
Es hat die Nacht über kräftig geregnet, jetzt fallen nur noch wenige Tropfen, die nicht stören. Bis Geboltskirchen gehe ich auf Asphalt, ehe es in den Kobernaußerwald geht. Mehr oder weniger zwei Tage geh ich im Wald, eigentlich bis Schneegattern. Der Wald macht das Gehen angenehm. Vom Regen kommen nur wenige Tropfen durch die fast dichten Baumkronen. Mein rechter Schuh drückt beim Knöchel. Ich müsste mit der Ferse ein bisschen höher stehen und lege ein Taschentuch unter die Einlage meines Schuhs. Das hilft. Ich gehe bis Frankenburg und spüre, dass ich mich gestern, an meinem ersten Tag, überanstrengt habe.
Mit dem Eintauchen in den Kobernaußerwald kommt etwas Ruhe in mein Gehen.
Peter, ein alter Schulkollege, ruft mich an. Er wird mich am Abend in Frankenburg abholen, ich kann bei ihnen zuhause übernachten. In Frankenburg kehr ich beim Dorfwirt ein, bestell mir eine Leberknödelsuppe und schlafe umgehend am Gastzimmertisch sitzend ein. Der Wirt weckt mich freundlich, als er mit der Suppe kommt. Wie soll ich je in Rom ankommen? Peter holt mich. Redend kämpfe ich mit dem Schlaf. Jeder Gedanke fällt schwer. Eigentlich bin ich vollkommen kaputt. Ich schlafe tief, aber werde hin und wieder stark schwitzend wach. Nach einem guten Frühstück brechen wir auf. Peter wird ein paar Tage mitgehen. Seine Frau bringt uns zum Ausgangspunkt, zum Dorfwirt. Noch bin ich irgendwie nicht pilgernd unterwegs.
Pfongau, 22. August
Auch die dritte Nacht verbringe ich bei Bekannten, diesmal in Pfongau. Ein lustiger Abend mit Sandi, einer Lehrerin von uns, und ihrem Freund Maxi. Seine Eltern geben uns Quartier. War es bisher eher ein körperlicher Kampf, wird es jetzt besser.
Beeindruckend, welche Wege wir gehen. Nie hätte ich geglaubt, am Weg nach Salzburg so viele wunderschöne Wanderwege durch Wälder zu finden. Peter und ich reden am Weg nicht viel, vereinbaren auch, dass jeder in seinem Tempo geht, zum Reden gibt es abends genug Zeit. Der nächste Tag soll uns schon nach Salzburg bringen. Der Flachgau besticht durch seine Wiesen, die Bauern sind mit dem Heuen beschäftigt. Man sieht keinen einzigen Acker – nur Milchwirtschaft. Der Geruch des schön langsam zu Heu trocknenden Grases steigt in die Nase. Jeder Schritt eine Wonne. Sonnige Tage. Und plötzlich geht es sich leicht, ganz leicht.
Ein Kind fährt mit einem alten Steyr-Traktor, so wie ich sie aus meiner eigenen Kindheit kenne. Ein Schwader hängt an seinem Traktor, und der Junge, vielleicht zehn oder elf, arbeitet äußerst konzentriert. Er will nicht von der Fahrtrichtung abkommen, sondern alles Gras auch wirklich erwischen, damit es, vom Heuwender durch die Luft gewirbelt, schneller trocknet und zu Heu werden kann. Da darf nichts übersehen werden. In den Augen des Jungen merke ich, dass er ganz bei der Arbeit ist, da gibt es keinen Blick seitwärts auf irgendwelche Wanderer. Er steht fast auf dem Traktor, zum gemütlichen Sitzen keine Zeit. Am Ende der Mahd hebt er mit der Hydraulik den Schwader, kehrt um und lässt das Gerät wieder sanft auf der Wiese aufsitzen. Er scheint zufrieden mit seiner Arbeit, und es ist die Konzentration, die fasziniert. Eigentlich tolle Ferien, die er da erlebt. Keine Ablenkung. Kein Kopfhörer mit Musik, ein Ganz-bei-sich-Sein im Tun, kein Handy, das Stress erzeugt, auf irgendwelche nichtssagenden Postings antworten zu müssen. Er fährt mit seinem uralten Traktor und wendet das Gras. Das hat schon was.
Salzburg, 23. August
Wir wandern auf Salzburg zu, ich komme das erste Mal in meinem Leben nach Maria Plain, dem berühmten Salzburger Wallfahrtsort. Wir gehen dort durch die heilige Pforte, und dann ist in Salzburg der erste Weg zum Dom. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, verbotenerweise auf die Jedermann-Bühne zu steigen, einmal dort zu stehen, wo das Spiel vom Leben und Tod, von Macht und Gier und letztlich von Barmherzigkeit Jahr für Jahr den Mittelpunkt der Salzburger Festspiele bildet. Ich gehe in den Dom, setze mich ziemlich erschöpft in eine Bank. Hier sitze ich gut. Vier Tage sind es, seit ich weggegangen bin. Mit jedem Tag ist es besser geworden.
Festspielzeit ist eine teure Zeit in Salzburg. Hab kein Verlangen, länger zu bleiben. Schlängle mich durch die vor der Felsenreitschule ankommenden Gäste. Die Oper Faust wird gegeben. Irgendwie bin ich nicht passend gekleidet.
Am nächsten Tag gehen wir um sechs Uhr dreißig zur Frühmesse in den Dom, und sehr schnell liegt Salzburg hinter uns. In einer wunderbaren Landschaft überqueren wir bei Marzoll fast ungeahnt die Grenze, ein kurzes Verweilen in der Kirche und wir gehen auf schönen Wegen durch das kleine deutsche Eck.
Ein Traum wird wahr: einmal in Salzburg auf der Jedermann-Bühne stehen (freilich ohne Publikum)
Eine Etappe entlang der Saalach. Das Rauschen und Tosen des Wassers zeugen von der im Moment ruhenden Macht. Man sieht und hört, wozu Wasser fähig sein kann.
Ich finde eine Bank. Peter geht weiter.
Es ist ein Geschenk, hier zu sitzen, ein noch größeres Geschenk, von alldem, was einen durch den Alltag treibt, ablassen zu dürfen, vergessen zu dürfen. Einfach frei gehen. Mit jedem Schritt wird die Seele leichter, der Rucksack vielleicht schwerer und die Füße müder, aber es ist eine zufriedene Müdigkeit.
„Die Freiheit ist der kostbarste Teil des Menschen“, sagt unser Ordensstifter, der heilige Franz von Sales. Dieser Satz steht in großen Lettern in der Mehrzweckhalle unserer Schule. Die große Sehnsucht des Menschen ist die Freiheit. Er möchte in der Freiheit zuhause sein und baut und baut, damit sein Zuhause endlich ein Zuhause wird. Und irgendwann ist er gefangen in seinem Zuhause, unfrei. All das Streben und Mühen mit einer durchaus richtigen Absicht kann auch in ein Gefängnis führen. Lebendig eingemauert im so gut gemeinten Zuhause. Was bleibt, ist Gewohnheit. Die vertrauenslose Sorge um das Daheim-sein-Können kann uns Menschen zu Maurern werden lassen, zu Abkapslern, zu Menschen, die sich in der Gewohnheit einsperren und Heimat dazu sagen.
An der Saalach. Über Wochen werden mich fließende Gewässer begleiten. Beruhigend verändern und formen sie.
Gewohnheit macht müde, ja sie macht traurig, weil in der Gewohnheit die Chance, auf einen Gott, ich meine damit auf etwas Besonderes, auf etwas ganz Anderes, zu treffen, immer weniger wird. Und innerhalb dieser Mauern wird es immer enger, immer unfreier und trostloser.
Ich möchte gehen, damit alle diese Mauern fallen, damit alles, was mich gefangen nimmt und gefangen hält, sich öffnet, damit all das zusammenbricht, was nur mehr Gewohnheit ist und die Feigheit nährt. Ich möchte auf den Grund gehen, auch wenn manches dabei zugrunde geht. Ich möchte gehen, damit ich nach Hause komme, in eine Heimat ohne Mauern. In ein Haus ohne Ziegel. Ich möchte heimgehen. Im Gehen sesshaft werden. In der Ferne Rast erfahren. Im Gehen still werden. In der Stille gehen, auf den Grund kommen, dorthin, was mich ausmacht, was ich bin.
Im Gehen setze ich mich dem Wind aus, er soll all den Nebel, der meine