Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Bernd Siggelkow

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Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist - Bernd Siggelkow Jahreslosung

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mich nicht an warmherzige Worte erinnern, geschweige denn daran, jemals auf dem Schoß meines Vaters oder meiner Mutter gesessen zu haben. Schlechte Noten mit nach Hause zu bringen war eine Zumutung, dies duldete er überhaupt nicht. Zeit, um mit uns Hausaufgaben zu machen, sie zu kontrollieren oder gar mit uns zu lernen, nahm er sich aber nicht. Glücklicherweise musste ich fast nie für etwas üben, alles fiel mir irgendwie zu und somit war ich ein recht guter Schüler. Klar, ich war faul, schließlich fehlte mir jegliche Motivation, aber auf meine schulischen Leistungen wirkte sich das nicht aus.

      Wäre mir nicht vor vielen Jahren dieser barmherzige Gott mit seiner Liebe begegnet, wo wäre ich heute? Seine väterliche, mitfühlende und glühende Art hätte mich nie erreicht.

      Je älter ich wurde, umso deutlicher merkte ich, dass mein Vater kein Teil von uns war. Seine vielen Hobbys, die er anfing und genauso schnell wieder beendete, hatten nie etwas mit uns zu tun. Auf die Frage nach Taschengeld sagte mein Vater nur: »Geh arbeiten!« Und so klaute ich meine Süßigkeiten im Lebensmittelgeschäft. Im Alter von 16 Jahren wurde ich von einem Jugendpastor gefragt, ob ich wüsste, dass es jemanden gibt, der mich liebt. Diese Frage bewirkte etwas, das mein ganzes Leben und meine Haltung über Nacht veränderte.

      Zum ersten Mal beschäftigte ich mich bewusst mit dieser Liebe, die in meiner Kindheit keinen Platz gefunden hatte. Natürlich sprach der Pastor von Gottes Liebe, die ich bis dahin auch nicht kannte, doch plötzlich wusste ich, woraus meine Einsamkeit und meine Probleme resultierten.

      Gibt es diesen Gott, der mich liebt, obwohl ich mich von meiner Familie abgelehnt fühle? Gibt es diese liebende Kraft, die imstande ist, mir das zu geben, was mir bis dahin verwehrt wurde? Ich hatte nichts zu verlieren und entschied mich, Christ zu werden, was auch immer das bedeutete. Und ich wollte etwas für Kinder tun, damit sie nicht so aufwachsen mussten wie ich. Zwei Entscheidungen, die viele Dinge in mir und vielleicht auch durch mich veränderten.

      Auch in dieser Zeit erlebte ich meinen Vater wie einen Fremden. Er war zwar das einzige bisschen Familie, was ich besaß, aber er zeigte keinerlei Interesse. Auch die vielen Jahre danach suchte er niemals den Kontakt oder schickte ein Lebenszeichen von sich.

      Immer wieder versuchte ich ihn einzuladen, mit ihm zu telefonieren, E-Mails zu schreiben, doch von seiner Seite aus kam nie etwas zurück. Über all die Jahre habe ich mir immer wieder die gleiche Frage gestellt: Hat dein Vater dich jemals geliebt? Doch die Antwort blieb aus, genau wie eine Erwiderung auf meine jährlichen Mails zu seinem Geburtstag.

      Nun lag es vor mir, das Schreiben des Notars, das mir den Tod meines Vaters mitteilte. Obwohl ich nichts zu erwarten hatte, auch nicht mit einem Testament rechnete, war alles in mir angespannt. Irgendwo in diesem förmlichen Brief wollte ich einen Satz finden, der ein Stück Vaterliebe für seine Kinder erkennen ließ. So las ich seinen Inhalt mit zitternden Händen und Schweiß auf der Stirn. Doch viel zu lesen gab es nicht. Neben all den Aktenzeichen, Nummern und Daten enthielt das Schreiben nur wenige Zeilen: die Information zum Todestag meines Vaters und einen Satz, der meinen Bruder und mich betraf. Sein letzter Wille, der ihm allerdings offensichtlich nicht erfüllt wurde.

      Vor seinem Tod hatte er den Notar aufgesucht, um testamentarisch festzuhalten, dass seine Kinder nicht über sein Ableben informiert werden sollten.

      Aus meinen Augen flossen Tränen. Meine Vermutung, die ich schon einige Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt hatte, wurde schlagartig bestätigt. Mein Vater hat uns nie geliebt. Auch wenn man immer versuchen soll, das Gute in einem Menschen zu sehen, war diese Nachricht für mich der zweite Stich ins Herz. Natürlich waren die Umstände der Ehe meiner Eltern schlimm und ich habe Verständnis für die damalige Trennung der beiden. Doch mit dieser persönlichen Verletzung umzugehen, fiel mir unheimlich schwer. Der eigene Vater hatte wohl keinen Platz im Herzen für seine Kinder. Dies war einer der schrecklichsten Tage in meinem Leben.

      Wäre mir nicht vor vielen Jahren dieser barmherzige Gott mit seiner Liebe begegnet, wo wäre ich heute? Seine väterliche, mitfühlende und glühende Art hätte mich nie erreicht. Der Funke der Leidenschaft für andere Menschen, den er in meinem Leben entfacht hat, wäre dahinvegetiert.

      Ich sitze hier vor leeren Seiten, die ich füllen soll mit Worten und Gedanken über den Text: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.« Ich bin so froh, dass ich etwas zu diesem Thema sagen kann, weil mir diese Barmherzigkeit begegnet ist.

      Bernd Siggelkow

      im Mai 2020

       [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

      1

      Barmherzigkeit ist mehr

      Es war ein anstrengender Tag. Am Morgen früh raus, mit dem ersten Flieger von Berlin nach Köln zu einer Aufzeichnung beim Sender RTL. Lange Vorgespräche, Maske, Aufzeichnung der Sendung, dann ins Taxi und zurück zum Flughafen, mit dem letzten Flugzeug des Tages zurück nach Berlin.

      Verständlicherweise war ich müde und einfach kaputt – und so betrat ich auch das Terminal. Mein Büro hatte die Platzreservierung viel zu spät gebucht und so gab es auf dem überfüllten Rückflug nur noch einen Mittelplatz in der letzten Reihe.

      Beim Einstieg gab es kaum ein Vorankommen. Jeder versuchte, sein angebliches Handgepäck in den oberen Ablagen zu verstauen, aber das war sehr schwierig. Schließlich gibt es unterschiedliche Vorstellungen von Handgepäck. So quälte ich mich in die letzte Reihe und drückte mich wie eine Ölsardine in meinen Sitz. Die Armlehnen waren schon besetzt, der linke und auch der rechte Sitznachbar machten es sich bequem. Sie breiteten ihre Zeitungen aus und platzierten sich so, als säßen sie zu Hause in ihrem Fernsehsessel.

      Dieses Spiel kannte ich bereits von unzähligen anderen Flügen. Aus diesem Grund versuche ich immer einen Gangplatz zu bekommen, doch heute hatte ich das Gefühl, die ganze Welt hätte sich gegen mich verschworen. Ich schaute mich um, alle Plätze waren belegt. So ging auch die Hoffnung verloren, vielleicht spontan einen freien Platz besetzen zu können. Nur der Sitz direkt vor mir war noch frei, aber auch ein Mittelplatz – uninteressant.

      Als ich so in Gedanken versunken vor mich hin grummelte, sah ich im Mittelgang des Flugzeuges einen Mann, der mindestens zwei Meter groß war und geschätzte drei Zentner wog. Er steuerte zielstrebig auf die Reihe vor mir zu. Unvorstellbar, wie dieser Mensch in den mittleren Sitz kommen sollte, wenn ich mit meinen 1,85 m und 85 kg schon das Gefühl hatte, in einer Sardinenbüchse zu sitzen. Doch irgendwie zwängte er sich in den Stuhl. So hatte ich nicht nur einen undankbaren Mittelplatz, sondern auch noch eine »Wand« vor mir. Der Tag war gelaufen, meine Laune im Keller. Lesen konnte ich nicht, schließlich gab es gar keine Möglichkeit, die Arme auszubreiten. Kopfhörer hatte ich zu Hause vergessen und die Augen bekomme ich im Flugzeug sowieso nicht zu. Es gab nur einen Trost. Letzte Reihe heißt, mir wird als Erstem ein Getränk angeboten und ich würde schnell an meinen Kaffee kommen.

      Barmherzigkeit ist für mich mehr, als verzweifelt zu helfen. Barmherzigkeit heißt, mit den Augen Gottes zu sehen.

      So war es dann auch. Nachdem die Flughöhe erreicht war und das Signal ertönte, das den Service der freundlichen Flugbegleiter ankündigte, bekam ich mein ersehntes Heißgetränk, auch wenn es schwierig war, den Becher an den Mund zu führen.

      Auch der recht kompakte Herr aus der Reihe vor mir bestellte einen Kaffee, was ich natürlich sofort mitbekam, schließlich

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