Der nächste Papst. George Weigel

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Der nächste Papst - George Weigel

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aus der Nähe erfahren hatte, gelehrt, dass die Kirche mehr tun musste, als sich gegen politische und kulturelle Aggressoren zu verteidigen, wenn sie einen erneuerten und wiederbelebten Auftrag in Angriff nehmen wollte – genauso wie es einer seiner Helden, der heilige Karl Borromäus, im 16. Jahrhundert getan hatte, als er auf dem Bischofsstuhl des heiligen Ambrosius in Mailand saß. Denn am Ende des zweiten und an der Schwelle zum dritten Jahrtausends befand sich die katholische Kirche nicht länger in einer Zeit des Christentums, in der sie bei der Weitergabe des Glaubens mit der Hilfe der öffentlichen Umgebungskultur rechnen konnte. Sie befand sich wieder einmal in einer apostolischen Zeit – deren Rahmen durch den großen Auftrag zur Mission und durch ein lebhaftes Bewusstsein der Verpflichtung gekennzeichnet war, das Evangelium, »ob gelegen oder ungelegen«, zu verkündigen (2 Tim 4,2).

      Johannes XXIII. hatte dies erkannt. Und weil er diese Erkenntnis des evangelikalen Gebots und der evangelikalen Möglichkeit mit der ganzen katholischen Kirche teilen wollte, berief er das Zweite Vatikanische Konzil ein. Das II. Vatikanum sollte die Kräfte sammeln, die die »leoninische Revolution« freigesetzt hatte, und sie im Prisma eines ökumenischen Konzils klar betrachten. Dieses Konzil, so hoffte er, würde eine neue Pfingsterfahrung sein. Und wie das erste christliche Pfingstfest, das im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte beschrieben wird, sollte auch diese Erfahrung des Heiligen Geistes den Glauben der Kirche an die Wahrheit des Evangeliums vertiefen und in ihr einen neuen Eifer für die Evangelisierung entzünden.

      Was Johannes XXIII. mit dem II. Vatikanum beabsichtigt hatte, wird in seiner Eröffnungsansprache an die Konzilsteilnehmer vom 11. Oktober 1962 deutlich, die nach den ersten drei Wörtern des lateinischen Texts unter dem Titel Gaudet Mater Ecclesia (»Es jubelt die Mutter Kirche«) bekannt ist. Heute erinnert man sich, wenn überhaupt, nur an einen Satz aus dieser Ansprache: den Satz, in dem der Papst jene »Unheilsverkünder« rügte, in deren Augen die modernen Zeiten nichts als Untergang und Unheil mit sich brachten.1 Doch Gaudet Mater Ecclesia war weit mehr als eine Warnung vor historischem Pessimismus. Immer wieder kam Johannes XXIII. in seiner umfänglichen Ansprache auf einen zentralen Punkt zurück: dass die Kirche ihr Selbstverständnis wieder an Jesus Christus ausrichten müsse, von dem (so seine Worte) die Kirche »Namen, Gnade und jegliche Vollmacht erhält«.2 Die Ära dessen, was man vielleicht als Ekklesiozentrismus beschreiben könnte – einer Kirche, die in der Moderne oft darauf fokussiert gewesen ist, als Institution zu überleben und zu funktionieren –, neigte sich dem Ende zu. Ein neues christozentrisches Zeitalter – mit einer Kirche, die sich wieder darauf konzentriert, das Evangelium Jesu Christi als Antwort auf die Frage zu verkündigen, die sich in jedem Menschenleben stellt – sollte beginnen. Das war die Richtung, in die der Heilige Geist die Kirche fast ein Jahrhundert lang geführt hatte. Das war der Weg in die Zukunft, den der Katholizismus beschreiten musste, indem er die Institutionen, die in den Jahrhunderten, als die Kirche sich gegen feindliche Mächte verteidigt hatte, errichtet und aufrechterhalten worden waren, als Plattformen nutzte, um von dort aus die Welt zu bekehren.

      Indem sie diesen Weg einschlagen würde, betonte Johannes XXIII., würde die katholische Kirche keinen Bruch mit ihrer Vergangenheit erleiden. Vielmehr kehrte sie im spirituellen Sinne und in ihrer religiösen Vorstellung in das Galiläa des 28. Matthäuskapitels und des großen Sendungsauftrags zurück. Der Katholizismus war dabei, seine wesentliche evangelikale Bestimmung wiederherzustellen und zu erneuern. Um dieses Ziel zu erreichen – das heißt, alle Völker zu Jüngern zu machen –, musste die Kirche die Wahrheit, die Christus der ersten Gruppe von Aposteln hinterlassen hatte, »rein, unvermindert und ohne Entstellung überliefern«, wie es der Papst in Gaudet Mater Ecclesia formuliert hat.3 Doch während er die Notwendigkeit hervorhob, die Wahrheit des katholischen Glaubens zu bewahren, betonte Papst Johannes auch den Auftrag, diese Wahrheit weiterzugeben. Die Kirche musste das Geschenk weitergeben, das den Christen gemacht worden war, damit »diese Lehre in ihrer ganzen Fülle und Tiefe erkannt [wird]«.4 Denn in jener Wahrheit würden, wie der Papst lehrte, die Männer und Frauen der modernen Welt besser verstehen, »was sie in Wahrheit sind, welche Würde ihnen zukommt und welchem Ziel sie nachzustreben haben«.5 Das Evangelium zu verkündigen und zu bezeugen hieß, der Menschheit die Wahrheit über sich selbst zu bringen – eine im tiefsten Wortsinn befreiende Wahrheit.

      Das Zweite Vatikanische Konzil selbst war eine Zeit der Auseinandersetzungen und die Debatten in den fünfeinhalb Jahrzehnten, die seit seinem Ende vergangen sind, waren noch heftiger. Doch es sind nicht die Streitigkeiten innerhalb der nachkonziliaren Kirche, die uns jetzt an der Schwelle des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zu denken geben. In den 1700 Jahren der Geschichte des Katholizismus waren die ökumenischen Konzilien immer wieder mit strittigen Themen befasst, die nicht selten grundlegende Glaubenswahrheiten betrafen. Auf ökumenischen Konzilien wurden erbitterte Kämpfe ausgetragen und auch die Zeit nach diesen Konzilien war in der Regel von mehr oder weniger heftigen Auseinandersetzungen bestimmt. Dass in der katholischen Kirche Auseinandersetzungen stattfinden, ist nichts Neues. Es hat früh begonnen, wie wir im 6. und 15. Kapitel der Apostelgeschichte nachlesen können, und dies hat sich bis heute fortgesetzt.

      Auffallend ist allerdings, dass inmitten der nachkonziliaren Auseinandersetzungen, die auf das II. Vatikanum folgten, diejenigen Teile der Weltkirche, die sich die christuszentrierte, evangelikale Sicht der Zukunft der katholischen Kirche, wie Johannes XXIII. sie in Gaudet Mater Ecclesia entworfen hatte, zu eigen machten, eine Blütezeit erlebten. Gleichzeitig hielten diejenigen Teile der Weltkirche, die nicht begriffen hatten, dass die Gegenreformation vorüber war und der Heilige Geist die Kirche nun über den bloßen Selbsterhalt hinaus zu einem lebendigen Sendungsbewusstsein berief, dem Druck der modernen Welt nicht stand. Und ebenso erging es denjenigen Teilen der Weltkirche, die glaubten (und immer noch glauben), das Zweite Vatikanische Konzil habe einen radikalen Bruch mit der katholischen Vergangenheit vollzogen: jenen, die allem Anschein nach den Aufruf Johannes’ XXIII. in Gaudet Mater Ecclesia überhört hatten (und immer noch überhören), dass die Kirche der Zukunft die Wahrheit des Evangeliums und die Lehre der Kirche »rein, unvermindert und ohne Entstellung überliefern« soll.

      Die evangelikale Absicht, die Johannes XXIII. mit dem II. Vatikanum verfolgte, wurde durch drei entscheidende Ereignisse in der nachkonziliaren Kirche noch weiter bekräftigt. Diese Ereignisse inspirieren und beseelen den lebendigen Teil der heutigen katholischen Weltkirche. Das erste war das Apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi (»Die Verkündigung des Evangeliums«), das Papst Paul VI. 1975 herausgab.

      Paul VI. brachte das II. Vatikanum zu einem erfolgreichen Abschluss. Doch die Jahre unmittelbar nach dem Konzil waren von Kontroversen über die Bedeutung des Konzils, von einem schweren Verfall der kirchlichen Disziplin und von kirchenerschütternden Protesten gegen die Enzyklika über die katholische Ethik der menschlichen Liebe beherrscht, die Papst Paul 1968 promulgiert hatte (Humanae vitae). Als aber sein Leben sich dem Ende zuneigte, wollte Paul VI. der Kirche ein »pastorales Testament« hinterlassen, wie es einer seiner Mitarbeiter genannt hat.6 Dieses Testament – Evangelii nuntiandi, das als Abschluss der Arbeiten der Bischofssynode von 1974 verfasst worden war – rief der Kirche die ermutigende Vision ins Gedächtnis, die Johannes XXIII. für das II. Vatikanum gehabt hatte.

      Der Papst, der sich den Namen des Apostels der Heiden gegeben hatte, lehrte, dass Mission nicht einfach etwas ist, was die Kirche tut: Die Kirche ist Mission. Der einzige Auftrag der katholischen Kirche besteht darin, anderen ganz unumwunden die Freundschaft mit Jesus Christus anzubieten: »Es gibt keine wirkliche Evangelisierung«, schrieb Paul VI., »wenn nicht der Name, die Lehre, das Leben, die Verheißungen, das Reich, das Geheimnis von Jesus von Nazaret, des Sohnes Gottes, verkündet werden.«7 Christus zu begegnen heißt natürlich, der Kirche zu begegnen: einer Gemeinschaft, die von jenen sakramentalen Gnadenquellen lebt, die den Glauben, die Hoffnung und die Liebe speisen. Um im vollen Wortsinn in dieser Kirche zu leben, müssen diejenigen, die evangelisiert worden sind, selbst evangelisieren. Und indem sie zu Boten des Evangeliums werden, so Papst Paul abschließend, bewirken Christen die Umwandlung der Kultur und der Gesellschaft – ein Werk der Umwandlung, das von der fortwährenden Bekehrung zu Christus beseelt wird.

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