Krisendemokratie. Tamara Ehs

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und sind nun fixer Bestandteil der französischen Rechtsordnung. Diese nachhaltige Legalisierung von Normsuspendierungen nennt Matthias Lemke, der im Fachbereich Bundespolizei der deutschen Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung lehrt, »Ausnahmezustand 2.0«. Über das Plausibilisierungsmuster der Insuffizienz, also der Behauptung, dass der bestehende Rechtsrahmen nicht genüge, um auch in Zukunft solch eine Krise und all ihre Folgekosten (zum Beispiel den nächsten Shutdown) zu verhindern, werden der Exekutive dauerhaft mehr Machtmittel zugestanden.

      Es ist folglich Aufgabe sowie Kontrollfunktion des Parlaments, realiter insbesondere der Oppositionsparteien, nicht nur auf die Befristung der COVID-19-Maßnahmengesetze zu achten, sondern im Sinne der Sunset Legislation jede einzelne Maßnahme – sei sie auch auf den ersten Blick noch so gering – und ihre momentane Verhältnismäßigkeit immer wieder aufs Neue der Diskussion zu unterwerfen, vor allem dann, wenn vonseiten der Regierung ihre Verlängerung verlangt wird. Eine praktikable Möglichkeit läge im Vorschlag des führenden US-Verfassungsrechtlers Bruce Ackerman, jede Verlängerung an ein höheres Zustimmungsquorum zu binden: Gründete das erste Gesetz auf einer einfachen Mehrheit, müsste seine Verlängerung schon eine Zweidrittelmehrheit erlangen, jede neuerliche Befristung eine Dreiviertel-, schließlich Vierfünftelmehrheit usw.

      Zu groß ist nämlich die Gefahr der Gewöhnung an den autoritären Maßnahmenstaat. Über den Aspekt der Gesundheit lassen sich wohl ähnlich viele Grundrechte einschränken wie über den der Sicherheit. Die in den letzten Jahren oftmals überarbeitete österreichische »Sicherheitsarchitektur« hatte über die Plausibilisierung des Kampfes gegen den Terrorismus bereits zahlreichen Grundrechten wie beispielsweise dem Briefgeheimnis neue Grenzen gesetzt, sodass »von manchen Freiheitsrechten seinerzeit nur noch ihre Hülle bestehen blieb«, wie der Berliner Politikwissenschafter Sascha Kneip moniert. Auch für Österreich besteht daher die eigentliche Gefahr nicht in einer vorübergehenden präsidentiellen Notverordnungsregierung, sondern darin, dass sich inhaltlich autoritäre Gesetze in einer grundsätzlich liberalen Demokratie festsetzen und so den Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf Dauer verändern. Der Soziologe Harald Welzer meint hierzu: »Im Katastrophenfall zeigt sich nicht der Ausnahmezustand einer Gesellschaft, sondern lediglich eine Dimension ihrer Existenz, die im Alltag verborgen bleibt.« Die »neue Normalität« wäre demnach der alten Normalität schon eingeschrieben, bloß in ihrer Deutlichkeit noch nicht erfasst gewesen.

      Um dieser Bedrohung entgegenzusteuern, ist es unter vielem anderem notwendig, dass die Gesetze ein Begutachtungsverfahren durchlaufen, wodurch nicht nur Stimmen von Interessensvertretungen, akademischen Institutionen oder auch der Zivilgesellschaft Gehör finden können, sondern den Oppositionsparteien mehr Zeit für eine Reaktion eingeräumt wird. Sämtliche CoViD19-Gesetze der ersten Wochen kamen als Initiativanträge von Nationalratsabgeordneten der Regierungsparteien in den Gesetzgebungsprozess. Die von der Opposition unterstützten Beschleunigungsbeschlüsse sowie die Mithilfe von Bundesrat und Bundespräsident ermöglichten ihr schnelles Inkrafttreten. Allerdings fand auf diese Weise kein Begutachtungsverfahren statt. Sein Ausbleiben verhindert zwar nicht das verfassungsmäßige Zustandekommen, sehr wohl aber die Abgabe von Stellungnahmen durch die interessierte Öffentlichkeit.

      War es ganz zu Beginn der CoViD19-Krise wohl noch berechtigt gewesen, ausschließlich mit Initiativanträgen zu arbeiten, konnte diese Begründung spätestens Ende April von der Opposition nicht mehr nachvollzogen werden. Sie pochte daher auf ein Begutachtungsverfahren, das ihr die Regierungsparteien mit dem Verweis auf die Dringlichkeit der zu setzenden Maßnahmen (noch) nicht gewähren wollten. Deshalb nutzten die Oppositionsparteien SPÖ und FPÖ im Bundesrat ihr Einspruchsrecht gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates und legten ein Veto gegen einige der neuen Gesetze ein. Da solch ein Veto jedoch bloß aufschiebende Wirkung und zur Folge hat, dass der Nationalrat einen Beharrungsbeschluss trifft, sah Sigrid Maurer, Klubchefin der Grünen im Nationalrat, darin einen »zynischen Sabotageakt«.

      Viel eher als Sabotage war es aber ein symbolischer Akt, welcher immer dann notwendig wird, wenn besonders deutlich zum Tragen kommt, dass parlamentarische Kontrolle in Österreich vorrangig im Gegensatz von Opposition und Regierung verstanden und kommuniziert wird. Da ein Begutachtungsverfahren nicht erzwungen werden kann und es bei seinem Ausbleiben keine Sanktionsfolgen gibt, handelt es sich bei den Rechtsgrundlagen für die Begutachtung um Soft Law. Zwar sehen sowohl Arbeiterkammer- als auch Wirtschaftskammergesetz die »Einhaltung einer angemessenen Frist zur Begutachtung« vor, und der Verfassungsdienst empfiehlt hierfür sechs Wochen, doch diese Fristen werden schon in Regelzeiten in weniger als 20 Prozent der Fälle eingehalten, wie Laurenz Ennser-Jedenastik vom Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien feststellte. Rechtswissenschafter*in Maximilian Blaßnig und Antonia Reiss weisen folglich darauf hin, dass sich die parlamentarische Demokratie bereits zuvor im Rückbau befand:

      »Es entsteht der Eindruck, dass politische Agenden möglichst am Parlament vorbei und ohne öffentlichen Diskurs durchgesetzt werden sollen. Das Paradoxe dabei ist, dass es Parlamentarier*innen (der Mehrheitsparteien) sind, die diese Praxis ermöglichen.«

      Demokratie hat allerdings den Pluralismus und damit die Notwendigkeit der Einholung einer Diversität von Meinungen nicht nur idealerweise zur Voraussetzung, sondern eine breitere Entscheidungsfindung führt auch zu besseren, weithin akzeptierten Gesetzen. Das Begutachtungsverfahren, das immerhin 2017 erweitert wurde, sodass auch Bürger*innen über die Website des österreichischen Parlaments eine einfache Möglichkeit haben, Stellungnahmen zu Ministerialentwürfen einzubringen, vergrößert die Öffentlichkeit der parlamentarischen Diskussion und ermöglicht damit zumindest in Ansätzen eine partizipative Gesetzgebung.

      Hinsichtlich des Ziels von Öffentlichkeit und Partizipation sind auch Fragen der Transparenz und Verständlichkeit von Parlamentshandeln zu bedenken. Zu Recht kritisierten die Oppositionsparteien, dass es sich bei den ersten CoViD19-Maßnahmenpaketen ausschließlich um Sammelgesetze handelte. Solch eine Bündelung verkürzt zwar die Abstimmung zeitlich, erlaubt den Nationalratsabgeordneten allerdings kein differenziertes Abstimmungsverhalten. Auf diese Weise können weder Parlamentarier*innen und schon gar nicht Bürger*innen überblicken, worüber abgestimmt wird, zumal Gesetze, denen vor allem Abgeordnete der Oppositionsparteien im Sinne eines »nationalen Schulterschlusses« schnell zustimmen sollen und jene, die sie eigentlich ablehnen wollten, gemeinsam vorgelegt werden. Man kann damit nur dem gesamten Gesetzespaket zustimmen oder alles zurückweisen. Die SPÖ sah bereits vor Jahren in Sammelgesetzen wie dem Budgetbegleitgesetz der ersten ÖVP-FPÖ-Regierung eine Verletzung des rechtsstaatlichen sowie des demokratischen Prinzips und befasste den Verfassungsgerichtshof damit. Der VfGH gab 2004 im Erkenntnis VfSlg 17.173 zwar zu, dass Sammelgesetze »der Erkennbarkeit des Rechts abträglich« seien, sprach aber nicht von Verfassungswidrigkeit.

      Der Ausbruch der Oppositionsparteien aus dem von den Regierungsparteien ausgerufenen »nationalen Schulterschluss« war daher weder ein Sabotageakt noch in der Krise unverantwortlich, sondern die Wahrnehmung ihrer demokratischen Verantwortung. Angesichts von ausgebliebenen Begutachtungsverfahren, eilig vorgelegten Sammelgesetzen und der mangelnden Aufnahme von oppositionellen Ideen in (teilweise gemeinsam) beschlossenen Maßnahmen kamen die Oppositionsparteien in National- und Bundesrat schließlich doch noch der von den Regierungsparteien allein ihnen überlassenen Kontroll- und Alternativfunktion nach. Es ist die von der Verfassung übertragene Aufgabe des Parlaments, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen und inhaltliche Alternativen zum Regierungshandeln aufzuzeigen. Da sie in der österreichischen Parlamentswirklichkeit allerdings nur die Oppositionsparteien ausüben, war es bereits vor der CoViD19-Krise angebracht, und ist es nun umso mehr, die Oppositionsrechte zu stärken.

      VERWENDETE LITERATUR

      Bruce Ackerman, The Emergency Constitution, in: The Yale Law Journal 113/2004, S. 1029−1091.

      Maximilian Blaßnig/Antonia Reiss, Parlamentarische Demokratie im Rückbau, in: juridikum 4/2019, S. 460−462.

      Laurenz Ennser-Jedenastik, Zu kurze Begutachtungsfristen

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