Dekonstruktion. Peter Engelmann
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5.1 Dekonstruktion als Anknüpfungspunkt für kritische politische Reflexion
5.2 Totalitarismus als politikwissenschaftliches und als philosophisches Problem
5.3 Dialektik und Totalitarismus
5.3.1 Dialektik im politischen Raum
5.3.2 Dialektik und Systemgedanke
5.3.3 Der Totalitätsanspruch der hegelschen Philosophie und politischer Totalitarismus
5.4 Dekonstruktion und Totalitarismus
5.4.1 Dekonstruktion und politisches Engagement
5.4.2 Politik und Dekonstruktion – Dekonstruktion der Politik
Für Alexandra
Vorwort
In allen meinen philosophischen Arbeiten habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie das Individuelle, das Heterogene gegen jegliche Art von Übergriffen eines wie auch immer bestimmten Allgemeinen seine eigenständige Geltung erhalten könne. Dabei geht es nicht darum, die „Existenz“ eines Allgemeinen oder die Notwendigkeit von Allgemeinem zu negieren, sondern darum, es in seiner Macht über das Heterogene auf das Notwendige zu beschränken. Jedenfalls soll dem Allgemeinen nicht die Bedeutung zukommen, dass das Individuelle seine Geltung nur aus seiner Bestimmung als Moment des Allgemeinen erhält.
Diese Motivation resultiert aus meinen Erfahrungen mit dem politischen System, in dem ich aufgewachsen bin. Für mich, der ich aus Ostberlin komme und dort mit dem politischen System der DDR kollidierte, ist diese Fragestellung auch die Übersetzung persönlicher Erfahrungen mit der „Diktatur des Proletariats“, mit der Willkür des Parteiapparates, mit den alltäglichen Schikanen, denen Menschen bürgerlicher Herkunft ausgesetzt waren, und schließlich mit der gnadenlosen Allmacht der Stasi, in das Feld philosophischer Forschung. Über diesen biografischen Hintergrund hinaus ist es allgemein die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die die Frage nach der eigenständigen Geltung des Heterogenen zu einer über das Persönliche hinausgehenden Problematik macht.
Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem sich zwei totalitäre politische Systeme, Nationalsozialismus und „Diktatur des Proletariats“, im Namen einer Allgemeinheit über das Individuum hinweggesetzt und unendliches Leid über die Menschen gebracht haben, bis hin zum millionenfachen Mord aus ideologischen Motiven. Aufgrund dieser Erfahrung mit totalitären Gesellschaftssystemen, einer mittelbaren und einer unmittelbaren, musste die Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen und womöglich in der DDR aufgewachsen Deutschen nicht nur klären, wie die Verbrechen der Nationalsozialisten möglich gewesen waren, sondern auch, wie sich direkt im Anschluss daran ein neues totalitäres Regime in Ostdeutschland etablieren konnte.
Die Nachkriegsgeneration in Deutschland musste eine Erklärung dafür finden, wie selbst ihre humanistisch gebildete Elterngeneration in der Mehrheit das System des Nationalsozialismus mittragen konnte, aber auch dafür, wie diese Generation und auch sie selbst im Namen des Sozialismus eine totalitäre „Diktatur des Proletariats“ errichten konnten, als wäre nicht gerade eine Periode totalitärer Herrschaft zu Ende gegangen.
Die Entwertung des Individuellen zugunsten eines übergeordneten Allgemeinen war mit dem Zweiten Weltkrieg nicht beendet. In Deutschland prägte sie die DDR bis zu deren Untergang 1989. „Die Partei hat immer recht“ war in der DDR mehr als ein Slogan, dieses Motto war lebensbestimmende Norm und diente dem Repressionsapparat als einfache Richtschnur. Der sowjetische Überfall auf die Tschechoslowakei 1968 zur Beendigung des Prager Frühlings machte klar, dass es einen demokratischen Sozialismus nicht geben konnte, wenn schon seine Anfänge auf diese Weise vernichtet werden mussten. In den Augen der in der DDR herrschenden Schicht handelte es sich bei der Verknüpfung von Sozialismus und Demokratie offensichtlich um einen Systembruch, der mit den schärfsten Mitteln bekämpft werden musste.
Tatsächlich erwies sich damit das sozialistische Lager als nicht reformierbar und kollabierte dann auch 1989. Die wesentliche Strukturursache für den Zusammenbruch dieser Gesellschaftsform war die mangelnde Flexibilität und die deshalb fehlende Anpassungsfähigkeit des sozialistischen Systems.
Auf einer abstrakteren Ebene war die Ursache für den Zusammenbruch des sozialistischen Systems die mangelnde Verbindung eines sich selbst überhebenden Allgemeinen mit dem Individuellen, das es nur als Moment seiner selbst, nicht aber in seiner Eigenheit, seinem Eigensinn wahrzunehmen in der Lage war. Das System erhielt auf die Weise keine Rückmeldungen mehr. Statt zu reagieren und sich anzupassen, brach das System bei verstärktem Druck zusammen.
Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989, mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der Auflösung der Sowjetunion 1991, schien sich die Frage nach dem Totalitarismus zunächst von selbst erledigt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt, am Ende des 20. Jahrhunderts, konnte man noch annehmen, dass der Kampf gegen totalitäre Strukturen, die dieses Jahrhundert geprägt hatten, gewonnen sei. Sowohl der Faschismus als auch der Kommunismus waren besiegt, ein demokratisches Zeitalter schien sich anzukündigen, in dem rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen und die Menschenrechte für alle gelten würden. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sich nicht nur in den westlichen Demokratien, sondern weltweit menschenwürdige Verhältnisse durchgesetzt hätten.
Das Thema Totalitarismus war mit dem Zusammenbruch des Systems des realen Sozialismus historisch jedoch nicht erledigt. Heute muss man feststellen, dass der Traum vom Ende totalitärer politischer Verhältnisse nach 1989 nicht wahr geworden ist. Gefestigte demokratische Verhältnisse herrschen nach wie vor allein in den traditionellen Kernländern der Demokratie, auch wenn die Europäische Union sich nach Osten ausgeweitet hat, was auch dort – mit Ausnahme der seit 2011 zu beobachtenden Entwicklungen in Ungarn – zu einer Stabilisierung der 1989 errungenen Demokratie führte.
In den USA kann man spätestens seit 9/11 eine Re-Ideologisierung der Politik und eine Einschränkung der Bürgerrechte unter dem Titel der Terrorabwehr in bisher unbekanntem, besorgniserregendem Ausmaß beobachten. Dem islamischen Fundamentalismus stellte sich als Reaktion auf seinen Terroranschlag auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington DC am 11. September 2001 auf amerikanischer Seite mit George W. Bush und den Republikanern ein christlicher Fundamentalismus entgegen, der den Eindruck vermittelt, es hätte die Aufklärung nie gegeben, und der den Anschein erweckt, wir wüssten nichts mehr von den Folgen ideologisch